Enwor 11 - Das elfte Buch
hatten, schraubte sich der Drache mit gewaltigen Bewegungen seiner Riesenschwingen immer höher und hielt auf die dünne Wolkendecke zu, als wolle er etwaige Verfolger abschütteln. Einen gewaltigen Flügelschlag später durchstieß er das feuchte Nass und dann breiteten sich die Wolken unter ihnen auch schon aus; ein flockiges Meer aus Zuckerwatte, durch dessen Lücken es grün und braun schimmerte. Nach Minuten, die Skar wie Stunden vorkamen, breitete der
Frarr
seine ledernen Flügel so breit wie möglich aus und vertraute sich den Aufwinden an, die ihn erst noch ein Stück höher gleiten ließen, bis sie ein entgegengerichteter Luftwirbel sanft und dann immer schneller hinab drückte.
Sie durchstießen für einen kurzen Moment die Wolkendecke und schossen in eine beeindruckende frühmorgendliche Landschaft hinaus; doch bevor Skar Einzelheiten ausmachen konnte, tauchten sie erneut zwischen zwei Wolkenschichten ein — so als ob der
Frarr
ihren Schutz suchte, um sich möglichst unauffällig in eine friedvolle und unberührt wirkende Welt hineinzuschwingen Es war ein unglaublich erhabenes Gefühl, auf dem Rücken des jetzt friedlich gleitenden Drachens zu sitzen und das hinter sich zu wissen, was schlimmer als der schlimmste Alptraum war, der je einen Menschen aus dem Schlaf hochgeschreckt hatte. Sie durchstießen eine dichtere Wolkenschicht, die träge vor sich hin trieb und stießen hinauf in einen Bereich, in dem nichts war außer Sonne: Die flir-renden Strahlen spielten mit Esannas Haar, verliehen ihren dunklen, von Schweiß und Blut verklebten Haaren eine lichtdurchflutete Aura, die etwas Unwirkliches und Friedliches hatte wie der erste Frühlingstag nach einem harten Winter. Skar spürte den Wind auf seinen nackten Beinen und Esannas Wärme an seinen Armen und er fragte sich, warum sie nicht ewig so weitergleiten konnten durch die Unendlichkeit dieses frühen Morgens, um für immer alles hinter sich zu lassen, was mit Gewalt, Grausamkeit und Tod zu tun hatte.
Skar umklammerte Esanna instinktiv fester, als eine mächtige Wellenbewegung durch den Drachenkörper lief und sie noch ein Stück höher stiegen. Viele Meter über ihnen wob das Sonnenlicht ein verwirrendes Netz aus flirrenden Rechtecken in die Luft, das nach den endlosen Stunden in dem lebenden Tunnel- und Höhlensystem geradezu wie eine Verheißung auf ihn wirkte. Die vor ihm sitzende Esanna eng umklammernd, deren Zittern sich eher noch verstärkt hatte als nachzulassen, starrte er hinein in das ihm entgegenschlagende, gleißende Lichtspiel, das seine Augen mit einer wahren Woge von Helligkeit überflutete, sodass er sie für ein paar Sekunden fast vollständig schloss, bevor er sie vorsichtig wieder zu schmalen Schlitzen öffnen konnte. Dann hatten sie die Ausläufer der Wolkendecke erreicht und um sie herum war nichts als strahlend blauer Himmel. Trotz seiner Erschöpfung konnte Skar die Augen nicht vor dem phantastischen Anblick verschließen, der sich ihm bot. Es war ein gigantischer Canon, der sich unter ihnen auftat, eine tiefe Schlucht, eingeschnitten von einem brausenden Fluss, der weit unter ihnen in wildem Lauf das steinerne Land durchpflügte, irgendwo, weit weg, nahe am Horizont einen See durchquerte und fast direkt unter ihnen mit seiner tobenden Gischt ein unberührt wirkendes, weitläufiges Waldgebiet speiste. Zerklüftete, vom Regen und der Witterung abgewaschene und wie der Rücken einer alten Frau gebogene Steinmassive ragten ihnen entgegen und schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne hell und weiß, als läge auf ihnen frischer Schnee.
Der Kontrast hätte kaum großer sein können: Hinter ihnen lag das Reich dunkler, unbegreiflicher Schatten, eine nicht nur düstere und gefährliche Welt für sich, sondern auch die Quelle der vielleicht unheimlichsten und grausamsten Bedrohung, der Enwor je ausgesetzt gewesen war. Vor ihnen eröffnete sich dagegen eine taufrische, unschuldig wirkende Landschaft, die in ihrer Großartigkeit nicht nur beeindruckend war, sondern auch tiefen Frieden versprach — und damit auch die Erholungspause, die sie alle so dringend brauchten.
Das erste Hochgefühl bei diesem idyllischen Anblick und die Erleichterung, ihrer lebenden Falle entkommen zu sein, währte jedoch nicht lange an. So harmonisch und erhaben die gewaltige Landschaft auch wirkte, berührte sie Skar fast zwiespältig. Es war der Fluss, der weit unter ihnen im Berg verschwand, der in ihm unangenehmes, fast hartnäckiges Kribbeln auslöste.
Weitere Kostenlose Bücher