Enwor 11 - Das elfte Buch
nicht, dass er ihn billigte. Zerstückelte Leichen, klaffende Wunden, blutverschmierte Gewänder, abgerissene Gliedmaßen, niedergestreckte Frauen und Kinder und über allem der Gestank von Blut, Urin, Schweiß und Verwesung: Das alles war wahrlich nichts, was sich Esanna antun sollte; weder jetzt noch zu einem späteren Zeitpunkt. »Es tut mir Leid«, sagte er deshalb. »Aber ich fürchte, du wirst niemanden mehr antreffen.«
»Ach ja?«, fragte Esanna bitter. »Und deswegen soll ich es nicht zumindest probieren? Deswegen soll ich mir irgendwelchen Unsinn anhören, von ihm, der uns Diggern die Schuld gibt, dass wir von den Quorrl gejagt und erschlagen werden, als wären wir ein paar giftige Nattern?«
»Nein«, sagte Skar hilflos. »Niemand gibt dir oder den Diggern die Schuld an irgendetwas.«
»Na wunderbar«, giftete Esanna. »Dann kann ich jetzt also gehen?«
Skar schwieg. Wenn er Esanna laufen ließ, würde er vielleicht nie herausbekommen, was mit ihr nicht stimmte.
Aber wenn er ehrlich war, war das nicht der entscheidende Grund, warum er nicht wollte, dass sie ging. Es war etwas an ihr, das ihn auf eine unerklärliche Art anzog. Vielleicht weil sie ein ähnliches Gefühl in ihm auslöste wie Kiina, in diesen letzten Monaten ihres gemeinsamen Kampfes, bevor Del versucht hatte ihn umzubringen.
Dann fiel ihm auf, was er gerade gedacht hatte:
Bevor Del versucht hatte ihn umzubringen.
War es das, was er die ganze Zeit über hatte wegschieben wollen? Dass er eigentlich tot war? Oder dass er nie tot gewesen war, sondern nur in einer absonderlichen Art von Tiefschlaf Jahrhunderte überdauert hatte, bevor ihn der See ausgespuckt hatte wie einen unverdauten Bissen?
»Es wäre schön, wenn du mich wenigstens mit einer Antwort beehren würdest«, sagte Esanna säuerlich.
»Was?«
Esanna presste die Zähne so fest aufeinander, dass es knirschte. »Du überspannst den Bogen, Skar«, sagte sie schließlich. »Du kannst mich nicht behandeln wie eine dahergelaufene Bauerngöre.«
»Schön«, sagte Skar und presste sich etwas näher an den Baum, an dessen mächtigem, aber modrigem Stamm sich der auffrischende Wind brach. Seine Augen fielen wie von selbst immer wieder zu, aber seine Müdigkeit war in diesem Moment halb gespielt. Esanna
war
eine dahergelaufene Bauerngöre. Das Mädchen mit der klaffenden Gesichtswunde und den zerrissenen, besudelten Lumpen, die es nur sehr unvollständig vor der Feuchtigkeit und der Kälte schützten, hätte eigentlich vor Erschöpfung längst zusammenbrechen müssen. Die Energie, die es vorantrieb, hatte etwas Übermenschliches an sich. Aber im Grunde genommen passte es nur zum Gesamtbild, zu der durch und durch unpassenden Art, wie sie das Gespräch an sich gerissen hatte, und zu dem herausfordernden Blick, mit dem sie ihn jetzt maß.
»Der Abstieg alleine und bei diesem Wetter — es ist zu gefährlich. Es ist vielleicht besser, wenn ich dich begleite.« »Nach allem, was wir erlebt haben, kann mich nichts mehr schrecken«, sagte Esanna verächtlich. »Und schließlich habe ich noch mein Messer. Wenn jemand glaubt leichtes Spiel mit mir zu haben, wird er sich wundern.«
Skar atmete tief durch. So, wie sie sich aufführte, war ihm danach, sie anzuschreien; sie zu packen und so lange zu schütteln, bis sie zur Vernunft kam. Aber er wusste, dass er damit nur das Gegenteil von dem erreichen würde, was er wollte — und deshalb ließ er es. »Es dürfte nicht gerade einfach sein, den Weg zurück zu finden«, sagte er so ruhig wie möglich. »Es ist kein Spaß, sich bei diesem Wetter zu verirren. Wenn du nicht bis zur Dunkelheit einen sicheren Unterschlupf gefunden hast, wirst du erfrieren.«
»Bis dahin ist es noch lange hin«, sagte Esanna leichthin. »Das mag sein. Aber denk daran, wie ungemütlich es war, als du heute Nacht die Höhle verlassen hast.«
»Daran denke ich lieber nicht«, sagte Esanna wütend.
»Schließlich warst du daran schuld, dass ich mir in der Kälte fast den Tod geholt habe.«
Skar wusste nicht, ob er über diese Bemerkung lachen oder einfach losbrüllen sollte. »In dieser Nacht ist so viel passiert: Lassen wir es im Moment dabei«, sagte er schließlich so leise, dass seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern war. »Aber überleg es dir gut, ob du nicht besser mein Angebot annehmen willst.«
»Da gibt es nichts mehr zu überlegen«, sagte Esanna verstimmt. »Ich werde meiner Wege ziehen — und ihr könnt tun, was ihr nicht lassen könnt.«
»Nun
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