Enwor 11 - Das elfte Buch
Gürtel. Er nahm ihn an sich, setzte die rasiermesserscharfe Klinge an dem schwarzen Strang an und hatte es kaum getan, als sich der Tentakel auch schon mit einem schmatzenden Laut vom Bein des Toten löste und im Wasser verschwand. Eine Erfahrung, die sich später als nützlich erweisen konnte: Das Ungeheuer war in der Lage Schmerzen zu empfinden.
Da er nicht besonders versessen darauf war herauszufinden, ob die Kreatur auch Rachedurst verspürte, schob er den Dolch rasch wieder unter den Gürtel des Toten zurück und beeilte sich dann den Leichnam ein gutes Stück weit das Ufer hinaufzuzerren. Er wusste nicht, wie groß die Reichweite des Ungeheuers war, hatte aber keine Lust eine böse Überraschung zu erleben. Er war dem Tod zu knapp entronnen, um jetzt ein Risiko einzugehen. Vorsichtshalber schleifte er den Toten noch ein gutes Stück weiter den Strand hinauf, ehe er ihn zu Boden sinken ließ und sich daranmachte, ihn zu untersuchen.
Sein erster Eindruck schien sich zu bestätigen: Der Mann war ihm sowohl an Größe als auch an Wuchs ähnlich, schien aber wesentlich jünger gewesen zu sein. Nicht nur seine Glieder, sondern auch ein Teil seines Gesichts war zerschmettert, sodass man sein Alter — oder gar sein Aussehen — nur schätzen konnte, aber er war wohl noch ein halbes Kind gewesen; ein Leben, das geendet hatte, noch bevor es richtig begann. Trotzdem wies sein Körper unter den frischen Verletzungen eine Anzahl alter Narben auf. Er musste ein Krieger gewesen sein. Ein Satai.
So wie er selbst.
Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er die Kleider des Toten genauer in Augenschein nahm. Er hatte den Leichnam aus dem einzigen Grund aus dem Wasser gezogen, um sich seiner Kleider zu bemächtigen und nicht länger schutzlos und nackt der Sonne ausgeliefert zu sein, aber plötzlich wagte er es fast nicht mehr, sie zu berühren. Es war ein Gefühl zwischen Ehrfurcht, Wiedererkennen und dem Empfinden, etwas… Falsches zu tun. Ein Teil seiner Erinnerung war wieder da, ausgelöst durch den Anblick der vertrauten Kleider: Der Tote trug eng anliegende, wadenhohe Stiefel aus fein gegerbtem Leder, die sich weich und anschmiegsam wie Seide anfühlten. Ein knielanger, schwarzer Umhang wurde von einer silbernen Fibel über seiner rechten Schulter zusammengehalten. Sein einziger Schmuck war ein dünnes ledernes Stirnband, an dem ein daumennagelgroßer, fünfzackiger Stern aus Silber befestigt war.
Die Kleidung eines Satai.
Er war ein Satai gewesen, Anhänger einer Kaste, die Krieger waren, zugleich aber auch weit mehr, Verteidiger uralter Werte und Bewahrer eines Glaubens, der vielleicht mehr Wissen als Glauben war und nichts mit Religion zu tun hatte. Satai.
Es war seltsam: Er sollte das Gefühl haben einen Teil seines alten Lebens zurückzuerhalten, während er in die grob gewebten schwarzen Hosen des Toten schlüpfte und an-schließend seine Stiefel anzog, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er fühlte sich unwohl. Wenn er wirklich ein Satai gewesen war — woran er mittlerweile kaum noch zweifelte —, so gehörte dies zu einem Teil seiner Vergangenheit, der abgeschlossen war. Er hatte eine Aufgabe gehabt und sie erfüllt. Er sollte diese Kleider nicht mehr tragen.
Trotzdem legte er auch den Brustharnisch und den Umhang an, schloss den komplizierten Mechanismus der Fibel über seiner rechten Schulter, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, und bückte sich als Letztes, um den Waffengurt anzulegen. Er war sehr schmal, hatte eine schmucklose Schließe aus mattem Silber und schien aus einer Art gegerbter Reptilienhaut zu bestehen. Neben dem Dolch, den er schon einmal benutzt hatte, befand sich eine viel längere Scheide aus der gleichen Drachenhaut, in der ein prachtvolles Schwert steckte. Als er den reich ziselierten Griff herauszog, stellte er fest, dass die Klinge zwar länger als sein Arm, aber kaum so breit wie zwei nebeneinander gelegte Finger war. Dann wusste er, was er in der Hand hielt: Ein Tschekal, die heilige Waffe eines Satai. Sie zu berühren, bedeutete den Tod für jeden Nicht-Satai. Die Klinge aus geschmiedetem Sternenstahl war härter als jedes andere Material auf dieser Welt und konnte ebenso mühelos einen Diamanten zerschmettern, wie sie ein Haar zu spalten vermochte.
Aber etwas stimmte mit dem Tschekal nicht. Es war nicht so gut ausbalanciert, wie es hätte sein müssen, und der Griff sollte ebenso schmucklos wie massiv sein, eine einfache Parierstange und ein mit festem
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