Enwor 11 - Das elfte Buch
waren nicht mehr in der kleinen Kammer, sondern in einem anderen Teil der unterirdischen Tempelfestung, einem langen, düsteren Gang aus Sternenstahl, dessen Ende zum Wasserfall hin offen war, sodass das Dröhnen des Wassers Eingang in den Berg fand. Das Wasser des Sturzes rauschte so unbeteiligt und kraftvoll nieder, wie er dies seit Millionen Jahren tat, und wie er es vermutlich auch noch in Millionen Jahren tun würde; eine gewaltige, schweigende Macht, die in ihrer ruhigen Majestät selbst die bizarre unterirdische Welt der Alten zu einem Nichts degradierte.
Zu Kiina und Titch hatte sich ein weiterer Quorrl gesellt.
Sie hatten den Leichnam des älteren Mannes in den gold-durchwirkten schwarzen Mantel eines Satai gewickelt und hierher gebracht. Wortlos und sehr ernst gab Kiina den beiden Quorrl-Kriegern einen Wink und die geschuppten Giganten warfen den toten Körper mit aller Macht in den Sturz hinein. Die gläserne Wand teilte sich, schien ihn für den Bruchteil einer Sekunde schwerelos zu halten — und schloss sich wie ein Vorhang aus kristallklarer Schwärze.
»Eine Minute«, murmelte einer der Quorrl. »Wären wir nur eine Minute früher gekommen…«
»Es hätte nichts geändert«, sagte Kiina. »Ich glaube, er hat es so gewollt.« Sie stand eine Weile still, dann hob sie die Hand und zog den Ring ab, den sie von Del genommen hatte. Bevor Titch oder der andere Quorrl sie daran hindern konnten, warf sie ihn so weit in den Sturz hinein, wie sie nur konnte.
»Was… was tust du?«, keuchte Titch. »Du hast soeben ein Königreich verschenkt! Wer diesen Ring besitzt, ist der Herrscher der Errish!«
»Wenn es sie noch gibt, dann brauchen sie keinen Herrscher«, antwortete Kiina leise. »Niemand braucht einen Herrscher, Titch. Vielleicht war es das, wofür Skar wirklich gekämpft hat, Titch. Wir sollten aufhören zu herrschen.«
Skar.
Sein Name war also Skar. Er wusste es im gleichen Moment, in dem er das Wort hörte. Sein Klang war so vertraut, dass es fast wehtat.
»Und wo willst du jetzt hin, Menschenjunges?«, fragte Titch nach einer Weile.
Kiina zuckte mit den Schultern. »Enwor ist groß, Fischgesicht.« Sie hob abermals die Schultern, lächelte traurig und machte eine vage Bewegung mit beiden Händen. »Irgendwohin.«
»Das trifft sich gut«, antwortete Titch und trat neben sie. »Dann haben wir denselben Weg.« Die beiden lachten, drehten sich um und gingen nebeneinander davon, und mit jedem Schritt, den sie taten, entfernten sie sich nicht nur räumlich, sondern verloren auch mehr und mehr an Substanz; gleichzeitig wurde die Wirklichkeit realer, als glitte er unendlich langsam über die Grenze zwischen Traum und Wachsein.
Als die Vision endete, befand er sich noch immer am gleichen Ort. Er konnte sich nicht erinnern, sich bewegt zu haben, musste es aber wohl. Er saß noch immer auf dem Boden, aber die Wand in seinem Rücken, gegen die er sich gelehnt hatte, gehörte nicht mehr zu der Kammer, in der er eingeschlafen war. Das Dröhnen des Wasserfalles erfüllte die Luft. Etwas Schmales, Silbernes blitzte neben ihm auf dem Boden.
Es war der Ring. Der heilige Ring der Errish, den Kiina in den Wasserfall geworfen hatte. Er war zurückgekommen, so, wie auch Skar zurückgekommen war.
Warum?
Er hob den Ring auf, schob ihn jedoch nicht auf den Finger, sondern verbarg ihn in einer der zahlreichen Taschen, die in den Gürtel des toten Satai eingearbeitet waren. Dann stand er auf und ging mit langsamen Bewegungen zum Ende des Stollens.
Skar stand lange, endlos lange so da und starrte in die dröhnende Tiefe hinab. Er stand vor seinem Grab; einem Grab, in dem er für alle Zeiten hätte bleiben sollen und aus dem er zurückgekommen war; und er wusste nicht einmal, warum. Seine Erinnerungen kehrten nun immer schneller und schneller zurück. Aus dem Tröpfeln einzelner Gedanken war längst ein reißender Strom geworden, als wäre die Szene, die er mit angesehen hatte, vielleicht auch nur der bloße Klang seines eigenen Namens, der Schlüssel gewesen, der das Tor endgültig öffnete. Er erinnerte sich nun an alles. Sein Leben. Die entsetzliche Erkenntnis, wer er in Wirklichkeit war, was er war, der furchtbare Schmerz, als er begriff, dass der einzige Freund, den er jemals gehabt hatte, in Wirklichkeit sein schlimmster Feind gewesen war…
Er war gestorben. Es war so, wie Kiina gesagt hatte: Er hatte es gewollt und Del war trotz allem der einzige Mensch auf der Welt, dem er gestattete, ihn zu töten. Doch
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