Enwor 11 - Das elfte Buch
brach. »Du erst mal solltest dich wieder bekleiden«, sagte er ruhig.
Skar runzelte die Stirn und sah an sich herab. »Huch«, sagte er. Seine Hose, die er hatte herunterlassen müssen, um sich von dem besonders penetranten Tentakel zu befreien, war bei dem Sturz in die Tiefe vollends verloren gegangen. Oberhalb seiner Stiefel bis zum Harnisch war er nackt; blutige Kratzer und bissähnliche Spuren zeugten von den ver-zweifelten Versuchen der
Khtaam
von ihm Besitz zu ergreifen.
»Hat vielleicht jemand meine Beinkleider gesehen?«, fragte Skar, während er es Esanna gleich tat, die Knie anzog und die Arme um sie schlang. Die relativ raschen Bewegungen jagten Schmerzschauer durch seinen Körper, die ihm mehr als deutlich zeigten, dass er alles andere als kampfbereit war.
Während er gleichzeitig Esanna einen verstohlenen Blick zuwarf (warum hatte sie nichts gesagt?), tastete seine rechte Hand nach seiner Schwertscheide. Zu seiner Beruhigung fand er den ungewöhnlich verzierten Griff des
Tschekals
an seinem angestammten Platz vor und er erinnerte sich, dass er das Schwert hatte zurückgleiten lassen, bevor er das Mädchen aus den Fängen der schleimigen, tentakelbewehrten Kreatur befreit hatte. Es war gut zu wissen, dass er zumindest seine Waffe noch in Griffweite hatte.
»Von den Resten deiner Kleidung wir haben nichts gefunden«, sagte Kama ernsthaft.
»Ja.« Skar schloss für einen Moment die Augen und augenblicklich tanzten wieder dunkle Schatten vor ihm. »Es ist ja vielleicht auch nicht so wichtig. Aber… es ist kalt hier.«
»Stimmt«, bestätigte Esanna. »Ich friere auch. Ohne Feuer…«
»Wir hier können kein Feuer machen, selbst wenn wir Holz hätten«, sagte Kama. »Zu gefährlich. Außerdem wir nicht haben viel Zeit.«
»Wieso haben wir nicht mehr viel Zeit?«, fragte Skar. »Fürchtest du, dass die
Khtaam
uns noch einmal angreifen könnten?«
»Die
Khtaam…
vielleicht. Aber sicher… etwas anderes.« »Etwas anderes? Was meinst du damit?«
Kama schluckte ein paarmal. Sein Gesicht war jetzt so bleich, dass es sich in dem schwach-grünlichen Licht als heller Fleck abzeichnete. »Es hat viele… Formen«, sagte er so vorsichtig, als spräche er ein streng gehütetes Geheimnis aus. »Es ist mächtiger geworden seit… seit damals, Skar. Es unterwandert ganz Enwor. Es wird alles mitreißen, wenn wir es nicht verhindern.« Seine Hände verkrampften sich, als wollten sie etwas fassen. »Und dennoch«, fuhr er nach einer Weile fort, »den ersten Sieg hast du bereits davongetragen. Das Khtaam hat versucht dich zu vernichten —oder zumindest dich in seinen Bann zu ziehen. Du musst ihm auch weiterhin widerstehen. Erst wenn dir das gelingt, wirst du den Kampf aus eigener Kraft auf dich nehmen können.«
Skar schüttelte verwirrt den Kopf, eine Geste, mit der er nicht nur seinen Unglauben dokumentieren, sondern auch Zeit gewinnen wollte. Kamas Worte berührten ihn tief, viel tiefer, als er es sich vielleicht im ersten Moment eingestehen wollte. Sie zerstörten irgendetwas in ihm, trieben Risse in eine Mauer, die jetzt langsam zu zerbröseln begann und hinter der irgendetwas lauerte, das vielleicht noch schrecklicher war, als es der Angriff der
Khtaäm
gewesen war. Bruchstücke bereits verloren gegangener Erinnerungen tauchten vor Skars innerem Auge auf.
Enwor ist groß genug für mehr als ein Volk, Bruder. Geh. Nimm dir die eisigen Inseln des Nordens. Nimm die Tiefen des Meeres und die brennenden Wüsten, nimm dir die Berge und die Höhlen unter der Erde. Nimm dir jeden Ort, an dem Menschen nicht existieren können und lebe einfach.
Er war sich sicher, dass er das zu irgend jemandem — oder zu
irgendetwas —
gesagt hatte. Er war sich sicher, dass er bereits einmal den Schlüssel zum Schicksal Enwors in den Händen gehalten hatte… und plötzlich bekam er einen anderen Zipfel seiner Erinnerungen zu fassen, ein Bruchstück von dem Verständnis des großen Zusammenhangs, das ihn schon einmal in den Strudel von Zerstörung und Vernichtung mitgerissen hatte…
Er stöhnte auf, und ohne es zu bemerken, begann sein Kopf hin und her zu pendeln. Esanna sah auf, zuerst nur beiläufig, aber dann besorgt, als sie sah, dass sein Gesicht alle Farbe verloren hatte, er seine Wangenmuskeln anspannte, als würde er seinen Kiefer mit aller Macht aufeinander pressen, und dass auf seiner Stirn feine Schweißperlen glitzerten.
Plötzlich begannen seine Lippen zu beben und ein röchelnder, unmenschlicher Laut entrang
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