Enwor 11 - Das elfte Buch
aus. Mit einer ungezielten, hektischen Bewegung wischte er Esannas Arme beiseite und richtete sich halb auf. Er hatte einen Blick hinter den Vorhang der Wirklichkeit geworfen und er hatte gesehen, was dahinter lauerte: der Wahnsinn und etwas, gegen das alle Schrecken der Kriege zwischen Quorrl und Menschen, alle von Menschen und ihren Gegnern verursachten Gemetzel und Katastrophen verblassten wie harmlose Streitigkeiten zwischen Kindern. Er hatte den Zipfel der Wahrheit zu fassen bekommen und er war ganz nah dran gewesen, aber nicht nah genug, um das ganze schreckliche Geheimnis zu erfassen. Er wusste nur eins: Es gab eine zweite Wirklichkeit hinter den Dingen, und wenn er bereit war sich diesem Gedanken mit aller Konsequenz zu stellen, dann musste er sich mit aller Kraft dem entgegenstellen, das Enwor vernichten wollte.
»Was ist das«, keuchte er, »wer bist du…« Aber er sprach nicht weiter, denn in diesem Moment erklang ein singendes Geräusch, leise wie der Lockruf eines kleinen Vogels zur Morgenstunde und doch so durchdringend, dass ihn ein rascher Schauer durchrieselte.
Bevor Skar begriff, was da an sein Ohr drang, war es auch schon wieder vorbei. Es herrschte die mittlerweile vertraute unnatürliche Stille, wie sie nur tief in einem Berg möglich war, in einer weit verästelten Höhle, an die kein Außengeräusch drang und nichts weiter zu hören war als die Lebensgeräusche der wenigen ihn begleitenden Lebewesen. Aber trotzdem war er vollkommen sicher irgendetwas gehört zu haben — oder vielleicht auch nur gespürt oder erahnt. Etwas, das nicht in diese Höhle gehörte und möglicherweise doch hier zu Hause war.
»Was war mit dir los?«, fragte Esanna. Sie hatte sich wieder ein Stück zurückgezogen, sich auf den Boden gehockt und die Arme um die Knie geschlungen — wie ein kleines Kind, das die Wirklichkeit ausblenden will. Aber vielleicht war es ja auch gar nicht die Wirklichkeit: Vielleicht war es etwas ganz anderes, etwas viel Monströseres und gleichzeitig viel Realeres. Etwas, das im Grunde genommen jeder Bewohner Enwors wusste oder doch zumindest ahnte, ein Geheimnis, das keines war, weil es so offensichtlich war und gerade deshalb im Verborgenen existierte, jederzeit bereit entdeckt und gleichzeitig verleugnet zu werden.
Alles war eins und nichts war so, wie es auf den ersten Blick schien.
Genau das war das Geheimnis und doch war es das auf seltsame Weise auch wieder nicht; es konnte es schon deshalb nicht sein, weil die Natur der Verästelungen, des Ineinandergreifens und der Wucherungen unbegreiflich war. Es war nicht in Gedanken fassbar und würde es nie sein und bereits in dem Moment, in dem Skar es zu fassen glaubte, hatte er es auch schon wieder verloren.
»Was war mit dir los?«, wiederholte Esanna. »Du warst vollkommen geistesabwesend.«
Er war es nicht nur gewesen, er war es immer noch — auf eine nur schwer begreifliche Art. Und trotzdem fragte er sich in diesem Augenblick nur, was mit Esanna geschehen war. War es tatsächlich erst ein paar Stunden her, dass dieses zarte, unscheinbare Digger-Mädchen mit einem Messer auf ihn losgegangen war? Hatte sie wirklich die ersten Angriffe der
Khtaam
nahezu mühelos beiseite gewischt? »Du nicht können von ihm andere Antworten erwarten als von dir selbst«, sagte Kama.
»Was?«, fauchte Esanna und wandte sich zu ihm um.
»Was soll denn das heißen?«
»Dass er brauchen Zeit«, sagte der Nahrak ungerührt. »Und du auch. Eure Bestimmung drängt. Aber trotzdem dürft ihr nichts überstürzen.«
Skar spielte nervös mit dem Griff seines
Tschekals.
Er kam sich beobachtet und belauert vor. Es war ähnlich wie unzählige Male zuvor, wenn er die Vorbereitungen seiner bislang noch unsichtbaren Gegner zum Angriff gespürt hatte, wenn winzige Laute sich zu dem sicheren Gefühl verdichtet hatten, dass es besser war, sich in Kampfposition zu begeben. Und doch war es auch ganz anders. Vielleicht allein deshalb, weil es diesmal weder Geräusche noch optische Anzeichen waren, die sich zu einer Bedrohung verdichteten und das Krabbeln in ihm hervorriefen, das eine Mischung zwischen ängstlicher Anspannung und fast freudiger, in jedem Fall aber entspannter Erwartung war.
Fröstelnd zog er die nackten Beine näher an den Leib.
Drei Nahrak. Ein ganz und gar ungewöhnliches DiggerMädchen. Ein halb toter Satai, der keine Ahnung hatte, was er hier sollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in einer so verrückten Konstellation auf einen
Weitere Kostenlose Bücher