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Enwor 3 - Das tote Land

Enwor 3 - Das tote Land

Titel: Enwor 3 - Das tote Land
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wirklich
gesehen
hatten — die Statue war bei aller Schrecklichkeit doch nicht mehr als eine leblose Skulptur aus Stein oder Horn oder irgendeinem anderen Material, in dem die Bewohner dieses Landes ihren Gott, vielleicht auch einen Dämon, den sie fürchteten und auf diese Weise zu bannen hofften, nachgebildet hatten. Es hätte Skar nicht einmal sehr viel mehr erschreckt, einem solchen Ungeheuer lebend und leibhaftig gegenüberzustehen. Schlimmer war das, was sie beide spürten, nicht mit ihren Sinnen, dafür aber um so deutlicher mit ihren Seelen wahrnahmen: das ungeheure Gewicht der Jahrtausende, die auf diesem halb eingestürzten Gewölbe lasteten, den fremden, eisigen Hauch, der sie wie eine Vision aus einer vollkommen anderen Welt gestreift hatte. Sie hatten einen kurzen, einen ganz kurzen Blick in das Tuan geworfen, das hier gewesen war, lange bevor der Mensch seinen Fuß auf die Oberfläche dieser Welt gesetzt hatte, und schon diese flüchtige Vision hatte genügt, etwas in ihnen erstarren zu lassen.
    Der eisige Wind schlug ihnen mit Macht entgegen, als sie den Treppenschacht verließen und wieder zwischen die glasierten Mauern der Ruine traten. El-tra entfernte sich rasch ein paar Schritte vom Ende der Treppe und blieb stehen. Seine Hand spannte sich so fest um das Schwert, daß Skar das leise Knacken seiner Gelenke hören konnte; ein Laut, der das Heulen des Sturmes zu unterlaufen und ungemildert an sein Gehör zu dringen schien, so, wie alle seine Wahrnehmungen plötzlich zweigeteilt waren: Der Sturm und die jagenden grauen Schatten ließen seine Umgebung noch immer zu einer bizarren Alptraumlandschaft werden, zu einem Ort, an dem Furcht etwas ebenso Selbstverständliches war wie Licht und Dunkelheit oder Wärme und Kälte; aber gleichzeitig sah er manches mit beinahe erschreckender Klarheit.
    Zögernd ging er an El-tra vorbei, trat durch den halbierten Torbogen und wollte sich nach rechts wenden, zurück in die Richtung, in der ihr Lager war. Der Sumpfmann berührte ihn an der Seite, schüttelte den Kopf und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Und jetzt, als hätte es El-tras Hinweis bedurft, um einen weiteren, verborgenen Sinn in ihm zu aktivieren, spürte er es wieder.
    Sie waren nicht allein. Vor ihnen war etwas Lebendes; und sie spürten es, spürten die reine Anwesenheit von Leben in diesem Reich des Schweigens und Toten, wie sie das Glühen einer Flamme in einem Land ewiger Finsternis gesehen hätten.
    El-tra deutete stumm nach Norden und ging los; schnell, aber nicht hastig. Skar folgte ihm, Staub und feines, pulverisiertes Glas knirschte unter ihren Stiefelsohlen. Skar spürte ein leises, drängendes Pochen in sich, ein Gefühl jenseits seiner normalen Empfindungen, nicht so deutlich, wie es unten im Keller gewesen war, und lange nicht so machtvoll wie während seines Kampfes gegen die
Errish,
aber doch nicht leise genug, um überhört oder gar geleugnet werden zu können. Sein dunkler Bruder war noch immer da, schlafend, doch nicht tot; ein Gefühl, als wäre in ihm etwas dabei, sich zu verpuppen, einzuspinnen in einen Kokon aus Schweigen und lastender Dunkelheit, um irgendwann, vielleicht schon bald, neu und mit schrecklicherer Macht als zuvor herauszubrechen.
    Er blieb stehen, preßte die Lippen zusammen und schloß für Sekunden die Augen. Seine Hände begannen zu zittern, und trotz der Kälte bedeckte feiner, kalter Schweiß seine Stirn.
    »Was hast du?« fragte El-tra.
    Skar schüttelte hastig den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Es ist schon vorbei.« Er versuchte zu lächeln. »Eine vorübergehende Schwäche, mehr nicht.«
    Er konnte El-tras Blick nicht sehen, aber er glaubte den Zweifel darin zu spüren.
    »Die Droge«, fügte er schnell hinzu. »Ich spüre sie noch immer. Mehr nicht.«
    El-tra schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, Bruder«, sagte er sanft und doch in einem Tonfall, der jeglichen Widerspruch von vornherein ausschloß. »Es ist etwas anderes. Da ist etwas in dir, das mich ängstigt.«
    Skar lachte. »Vielleicht meine schwarze Seele«, sagte er leichthin. »Ich verspeise normalerweise zum Frühstück kleine Kinder, weißt du? Und abends Sumpfmänner.«
    El-tra machte eine rasche, ärgerliche Handbewegung. »Du weißt, worüber ich rede«, sagte er scharf. »Und du versuchst es herunterzuspielen, weil es dich selbst ängstigt. Was ist es, das einen Mann dazu bringt, Furcht vor sich selbst zu haben?«
    Skar hielt dem Blick der unsichtbaren Augen einen Herzschlag lang
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