Enwor 3 - Das tote Land
die einen Blitz umklammerte. Aber es konnte auch etwas vollkommen anderes sein.
»Ihr könnt gehen«, sagte Del, zu den Kriegern gewandt, die sie bis hierher begleitet hatten. Die Männer drehten sich gehorsam um und gingen, aber Del wartete auch als sie den Raum verlassen hatten noch, bis ihre Schritte nicht mehr zu hören waren.
Skar lächelte dünn. »Ich nehme an, deine Herrin erwartet uns hinter dieser Tür«, sagte er.
Dels Gesicht blieb ausdruckslos, wie aus Stein gemeißelt. Er trat an die Tür, öffnete sie mit einem Mechanismus, den Skar nicht erkannte, und machte eine einladende Handbewegung.
Skar trat zögernd an ihm vorbei.
Der Anblick traf ihn wie eine Ohrfeige.
Der Raum hinter der Tür war kein Raum, sondern streng genommen nur ein vergleichsweise schmaler, sichelförmiger Sims, hinter dem sich eine gewaltige, bodenlose Höhle erstreckte. Ihre gegenüberliegende Wand verlor sich in wogender Weite; Nebel stieg in dünnen, geisterfingrigen Schwaden aus ihrer Tiefe empor und kroch über den Rand des Simses. Aber davon sah Skar kaum etwas. Auch nicht von der schlanken, weißgekleideten Frauengestalt, die am Rand des Abgrundes stand und ihm und Del, der die Tür hinter ihm schloß und sich neben ihm aufbaute, entgegensah. Sein Blick saugte sich an dem schwarzen Gewebe fest, das die Höhle wie klebrige Spinnfäden durchzog; ein Netz aus straff gespannten, miteinander verwobenen Fäden, stark wie ein Männerarm und schwarz, ein Schwarz, das Skar in dieser Tiefe erst einmal gesehen hatte, langgestreckt, organische, verquollene Formen, die sich wie Teer, der zu Fäden gezogen und dann erstarrt war, durch die Weite der Höhle zogen, hier und da zu Knoten und mächtigen pulsierenden Klumpen zusammengewachsen, lebend, lebend, lebend...
Daher dieses Gefühl, dachte er. Selbst das Denken schien ihm Mühe zu bereiten. Es war zu viel. Der Schock war zu groß, und der Hieb kam aus einer Richtung, aus der er ihn nicht erwartet hatte. Daher dieses aberwitzige Gefühl, schon einmal hiergewesen zu sein. Es war keine Einbildung gewesen. Er war schon einmal hiergewesen, oder zumindest an einem Ort wie diesem, irgendwo, am anderen Ende der Welt. Urcoun.
Irgendwann, nach Stunden, wie es ihm vorkam, nach Stunden, die er gelähmt und betäubt am Rand des Abgrundes gestanden und hinabgestarrt hatte, hinab in eine Tiefe, die tiefer als die Hellgor war, bodenloser als die Hölle, brach Del das Schweigen.
»Das war es, was wir dir zeigen wollten«, sagte er. »Vielleicht begreifst du jetzt.«
Skar drehte sich um, sah zuerst Del, dann Vela an und schüttelte stumm den Kopf. Nein. Er begriff nicht. Aber er begann damit. Er begann Dinge zu ahnen, ein Wissen zu spüren, das er nicht haben wollte und gegen das er sich wehrte.
Es war nutzlos. Er hatte es die ganze Zeit über geahnt, aber irgend etwas in ihm hatte sich gegen die Erkenntnis gewehrt, hatte sie unterdrückt und verzweifelt vergraben.
Er sah auf, als er Schritte neben sich hörte. Vela war schön, wie er sie in Erinnerung hatte, vielleicht noch schöner, jetzt, wo sich ihr Antlitz nicht hinter einem unansehnlichen grauen Schleier verbarg, sondern nur von lose fallendem Haar und einem dünnen, silbernen Diadem eingerahmt wurde. Es wäre so einfach, dachte er. Sie standen kaum einen Fußbreit vom Abgrund entfernt, und auch Del, so nahe er war, würde nicht rasch genug reagieren können. Eine kurze Bewegung, ein Stoß ...
»Aber du bist kein Mörder, Skar«, sagte sie. Ihre Stimme klang sanft, gar nicht so, wie er sie erwartet hatte, und die Leere unter ihm sang eine unhörbare Begleitmelodie zu ihren Worten. »Und du bist nicht sicher, ob es überhaupt etwas ändern würde.«
»Liest du meine Gedanken?« fragte er, nicht einmal sonderlich überrascht.
Vela schüttelte den Kopf. »Es ist das zweite Mal, daß du mir diese Frage stellst«, sagte sie mit einem flüchtigen, entschuldigenden Lächeln. »Und ich sage zum zweiten Mal nein. Aber es ist leicht zu erraten, was du denkst.«
Skar wandte sich ab, starrte wieder in die Tiefe. Nichts bewegte sich unter ihm, nur die Schatten wogten hierhin und dorthin, und trotzdem spürte er, daß unter ihm etwas war, lebte, ein pulsierendes, großes, unendlich großes und altes Etwas, kein Wesen, Körper oder Geist, vielleicht Leben in seiner reinsten Form. Bisher hatte er Leben mit Bewußtsein gleichgesetzt, aber vielleicht war das falsch. Vielleicht mußte, was lebte, nicht denken, und vielleicht lebte nicht alles, was
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