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Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Titel: Enwor 4 - Der steinerne Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sichtbar wurden. Der Anblick hatte sich seit zehn Tagen nicht verändert. Hätte sich Skar nur am Bild der Berge orientiert, dann hätte er kaum geglaubt, sich weiter als ein paar Meilen von Anchor entfernt zu haben.
    »Nein«, sagte Herger schließlich. »Der Fluß ist voller Eis —siehst du es nicht?«
    Skar hatte bis jetzt nicht mehr als einen flüchtigen Blick für den Fluß übrig gehabt, aber als er genauer hinsah, merkte er, was Herger meinte: In den kochenden braunen Fluten blitzte es immer wieder auf. Eis — winzige Körner, die wie achtlos hineingestreute Diamantsplitter durch die Wasseroberfläche glitzerten, aber auch große, unregelmäßige Brocken, auf denen ein Mann bequem hätte stehen können. Hier und da lagerte sich auch am Ufer Eis ab; schimmernde weiße Nester, die dem Ansturm des Frühlings trotzten, und der Fluß brachte nicht nur Schlamm und verklumpten Schnee mit sich, sondern auch Kälte. Der Nebel, der von seiner Oberfläche aufstieg, atmete noch den Hauch des Winters. Nein —Herger hatte recht: Selbst die rasendste Strömung war nicht schnell genug, Eis in solcher Menge über die fünf- oder sechshundert Meilen, die es bis zu den Bergen sein mußten, zu tragen, ohne daß es geschmolzen wäre.
    »Und was bedeutet das?« fragte er. »Für uns?«
    Herger antwortete nicht gleich, aber sein Blick nahm wieder jenen nachdenklichen, halb besorgten Ausdruck an, den Skar in den letzten Tagen oft an ihm beobachtet hatte. Sie waren — von ein paar kaum nennenswerten Umwegen abgesehen — zehn Tage ununterbrochen nach Norden geritten, aber es war trotzdem nicht kälter, sondern im Gegenteil wärmer geworden. Obwohl die Temperaturen in der Nacht noch immer unter den Gefrierpunkt sanken, war es tagsüber bereits doch so warm, daß sie die Mäntel ablegen und nur mit dünnen wollenen Hemden bekleidet reiten konnten. Skar hatte bislang über diesen Umstand kein Wort verloren, aber er hatte ein paar unbewußte Bemerkungen Hergers aufgeschnappt und daraus geschlossen, daß ein Wetter wie dieses auch hier nicht normal war.
    »Es bedeutet auf jeden Fall einen Umweg«, murmelte Herger.
    »Die Pferde schaffen es nicht durch diese Strömung. Und wir auch nicht.«
    »Und was schlägst du vor?«
    Wieder überlegte Herger sekundenlang. »Es gibt eine Furt«, sagte er nach einer Weile. »Einen Tagesritt westlich von hier.« »Wohin fließt dieser Fluß?« fragte Skar, Hergers letzte Bemerkung bewußt ignorierend.
    Herger grinste flüchtig. »Dorthin, wo die meisten Flüsse enden, Skar — zur Küste.«
    »In Richtung Elay?«
    Herger nickte. »Ungefähr. Wenn wir ihm folgen würden, dann würde er uns bis auf dreißig Meilen an die Stadt heranfuhren.« Er runzelte die Stirn, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, und fügte hinzu: »Ich weiß, was du jetzt denkst — vergiß es.« Er schüttelte erneut den Kopf, stützte sich für die Dauer eines Atemzuges schwer auf dem Sattelknauf ab und seufzte hörbar. »Reiten wir hinunter«, murmelte er schwach. »Den Pferden wird ein Schluck Wasser guttun. Und mir auch.« Ächzend richtete er sich im Sattel auf, griff mit unsicheren Fingern nach den Zügeln und ließ sein Pferd antraben.
    Skar warf einen raschen Blick über die Schulter zurück, ehe er ihm folgte: eine Bewegung, die ihm in den letzten Tagen so in Fleisch und Blut übergegangen war, daß er sie schon unbewußt ausführte. Aber natürlich war hinter ihnen nichts als die grüne Mauer des Waldes.
    Sein Blick glitt wieder über die eintönige Landschaft. Seine Augen brannten, und wenn er lange genug hinsah, dann begannen die grauen Nebelfetzen vor ihm Umrisse und Formen zu bilden: Gesichter, Gestalten ... die Schemen aus seinem Inneren, die jede Gelegenheit nutzten, hervorzubrechen und ihn zu verhöhnen. O nein — er war nicht mehr der Mann, der er gewesen war. Er war sich so fremd geworden, daß er allmählich anfing, Furcht vor sich selbst zu empfinden. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er die Einsamkeit menschlicher Gesellschaft vorgezogen. Jetzt haßte er sie. Sie hatten während der letzten neun Tage keinen Menschen gesehen, obwohl dieses Land alles andere als dünn besiedelt war. Herger hatte bewußt eine Route gewählt, auf der sie alle Städte und Dörfer in weitem Bogen umgingen — eine Vorsichtsmaß-
    nahme, der Skar nach anfänglichem Zweifel zugestimmt hatte, obwohl sie auf diesem Weg gut die doppelte Zeit brauchten, um Elay zu erreichen. Aber wenn sie jetzt dem Fluß folgten, dann

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