Enwor 4 - Der steinerne Wolf
zwischen seinen Schläfen aus.
Er wußte nicht, was geschah — Stimmen waren um ihn herum, Stimmen und Geräusche, und der unerträgliche Druck auf seinem Brustkorb verschwand, so daß er wieder atmen konnte. Die Stimmen wurden lauter, drängender, und dann war da noch eine andere Stimme, eine Stimme, die antwortete. — Er erschrak zutiefst, als er erkannte, daß es seine eigene Stimme war und daß er auf Fragen antwortete, obgleich er die Worte nicht verstand.
Er redete lange Stunden, wie es ihm vorkam, obwohl sein Zeitgefühl wie alle anderen Empfindungen erlosch. Irgendwann fiel er in Trance; die Stimme lullte ihn ein, und jede Frage drang ein wenig tiefer, riß weitere, halb verheilte Wunden in seiner Seele auf und förderte zutage, was zu vergessen er sich seit Monaten bemüht hatte.
Später erwachte er, aber nicht ganz. Die Trance verging, aber dafür legte sich Müdigkeit auf seine Augenlider, eine Müdigkeit, die nicht natürlichen Ursprungs war. In einem kurzen, vergänglichen Moment seltsamer Klarheit erinnerte er sich an ein Gesicht: schmal, grau, von strähnigem, braunem Haar eingerahmt und mit hungrigen Augen. Dann verging auch dieses Bild, und er schlief.
S kar hatte ein vages Gefühl von Zeit, die vergangen war; sehr viel Zeit. In seinem Kopf war ein dumpfer Druck, wie man ihn manchmal spürt, wenn man zu lange geschlafen hat, aber gleichzeitig fühlte er sich — körperlich — müde. Sein Hals schmerzte, und hinter seiner Stirn wirbelten Erinnemngsfetzen und Bilder durcheinander, ohne daß er hätte sagen können, was davon Traum und was Wirklichkeit war. Es war kalt; gleichzeitig spürte er auf der rechten Wange und dem nackten Oberarm die Hitze einer offenen Flamme. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber es ging nicht. Sein Kopf war bandagiert. Ein breiter, straff umgelegter Verband schmiegte sich um seine Schläfen und preßte seine Lider herunter.
Für einen winzigen Moment drohte ihn Panik zu übermannen;
er hatte plötzlich die irrsinnige Vorstellung, daß sie ihn geblendet haben könnten. Aber die Furcht verging so rasch, wie sie gekommen war. Sie hatten keinen Grund, etwas derart Grausames zu tun. Wahrscheinlich würden sie ihn ohne langes Zögern töten, wenn sie glaubten, daß er sie verraten oder ihnen — wenn auch unabsichtlich — auf andere Weise schaden könnte. Aber sie würden ihn nicht unnötig foltern.
Er erinnerte sich plötzlich an den Schmerz, den er gespürt hatte — einen dünnen, feurigen Stich in beide Schläfen, als bohrten sich zwei winzige glühende Nadeln in seinen Schädel. Für Augenblicke war er nicht sicher, ob die Erinnerung Teil eines wirren Traumes oder Realität war. Aber das Brennen rechts und links seiner Augenbrauen bewies ihm, daß zumindest dies wirklich geschehen war — wenn er auch immer noch nicht wußte,
was
nun mit ihm passiert war.
Doch seine Erinnerungen klärten sich, Stück für Stück, obwohl da irgend etwas in ihm war, das seine Gedanken wie eine unsichtbare graue Hand zurückhalten wollte.
Er hatte geredet — nicht geredet,
geantwortet —
auf Fragen, die sie ihm gestellt hatten, sehr viele und sehr ausführliche Fragen.
Skar bewegte sich vorsichtig, hob beide Hände an den Kopf, tastete mit den Fingerspitzen über den groben Stoff des Verbandes und fühlte klebriges Blut und einen neuen, brennenden Schmerz, als er seine Schläfen berührte.
»Laß das«, sagte eine Stimme über ihm. »Ich nehme den Verband ab, wenn du es willst, aber nimm die Hände herunter.«
Skar gehorchte. In der Dunkelheit neben ihm waren Schritte, das Rascheln von Seide und dann das Gefühl eines Körpers, der sich über ihn beugte. Eine Frau. Es war die Stimme einer Frau gewesen, und es war das Gefühl einer Frau, die sich an dem Verband um seinen Schädel zu schaffen machte: der leise, unaufdringliche Duft frisch gewaschener Haare und schmale, erfahrene Hände, die geschickt den Verband lösten und seinen Kopf anhoben.
»Stillhalten«, fuhr die Stimme fort. »Es wird jetzt weh tun.«
Skar biß instinktiv die Zähne zusammen, aber der Schmerz war nicht so schlimm. Skar spürte nur ein neuerliches, kurzes Brennen, als der Verband mit einem scharfen Ruck heruntergerissen wurde. Er öffnete die Augen, blinzelte ein paarmal und drehte rasch den Kopf auf die Seite. Rings um sein Lager brannten Fackeln, und das grelle Licht schmerzte in seinen Augen.
»Es ist gleich vorbei. Vielleicht wirst du noch eine Weile Kopfschmerzen haben, aber das ist
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