Enwor 5 - Das schwarze Schiff
Anflug von Hysterie, war dies alles gar nicht wahr. Vielleicht war auch er längst nicht mehr Herr seiner Sinne, sondern gefangen in einem endlosen, quälenden Alptraum, der irgendwo dort draußen auf dem Meer begonnen hatte.
Skar hörte ein Geräusch hinter sich, riß sich gewaltsam aus seinen Gedanken und von dem bizarren Anblick los und wandte sich um. Automatisch straffte er sich; eine nutzlose Geste angesichts des gigantischen weißen Molochs in seinem Rücken. Aber er hatte auch nicht mehr die Kraft, gegen Gewohnheiten zu kämpfen.
Es war einer der Freisegler, der sich, auf Händen und Knien kriechend, die halb geschmolzenen Eisstufen hinaufquälte. Skar trat ihm entgegen, ergriff seine ausgestreckte Hand und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck zu sich herauf. Der Mann nickte dankbar, richtete sich auf und erstarrte, als er des blitzenden Labyrinths ansichtig wurde.
»Ja?« sagte Skar, schnell und so barsch, daß der Freisegler ihn beinahe automatisch wieder ansah. Sein Blick flackerte.
»Ihr... der Satai verlangt nach Euch, Herr«, meldete er stockend.
»Ich soll Euch holen.«
Der Satai,
wiederholte Skar in Gedanken. Die Männer kannten seinen und Dels Namen so gut wie sie selbst, aber für sie waren sie immer noch
die Satai —
was hatte er erwartet? Freundschaft?
»Ich komme«, beschied er ihm einsilbig. »Geh voraus und sage Del Bescheid.«
»Ihr sollt gleich kommen, Herr. Der Satai sagte ausdrücklich sofort.« Der Mann war nervös. Sein Blick hielt dem Skars nicht stand; wie immer, wenn er mit einem der Freisegler sprach.
Warum haben sie
Angst vor mir?
dachte er. Und irgendwo, tief unter seinen Gedanken, antwortete eine Stimme:
Weil du ihr Todesengel bist, Skar. Und weil sie es wissen.
Er nickte, deutete mit einer knappen Geste in die Höhle zurück und folgte dem Matrosen.
D el kam ihm auf halber Strecke entgegen, blieb jedoch im vorderen Teil der Höhle, dicht hinter der gezackten Öffnung, die Skar in die Eiswand gebrochen hatte. Das Eis wuchs jetzt nicht mehr nach; die Wand war wieder eine Wand, nicht mehr, der Zauber erloschen. Wer immer diese verwunschene Insel beherrschte, ging sparsam mit seinen Kräften um.
»Nun?« fragte Skar übergangslos. »Was gibt es?«
Del deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich. Die Männer hatten begonnen, ihre Decken und Bündel wieder zusammenzuschnüren und alles für den Weitermarsch vorzubereiten. Ihre Bewegungen waren sehr langsam. »Gowenna«, sagte Del knapp. »Sie spricht. Und ich dachte mir, du solltest hören, was sie sagt.«
Skar wollte an ihm vorbeigehen, aber Del hielt ihn zurück und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Paß auf Helth auf, Skar. Ich glaube, er führt irgend etwas im Schilde.«
»Was meinst du damit?« fragte Skar ebenso leise. »Hat er irgend etwas gesagt?«
»Er redet ununterbrochen«, antwortete Del. »Aber was er sagt, gefällt mir nicht.« Seine Stimme hatte jenen hellen, gehetzten Flüsterton, den man fast ebensoweit wie ein normal gesprochenes Wort verstehen konnte, und sein übertrieben geheimnisvolles Verhalten erschien Skar sinnlos, beinahe albern. Aber für einen ganz kurzen Moment erinnerte es ihn auch an den Del, den er früher gekannt hatte.
»Dann behalte ihn im Auge.«
Del nickte, ließ seinen Arm los und deutete mit einer Kopfbewegung auf Gowennas Lager, ein flaches Bündel aus Decken und zusammengewickelten Kleidungsstücken im windgeschützten toten Winkel neben dem Eingang. Helth hockte auf Armeslänge neben ihr und starrte ins Leere. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber seine Haltung wirkte verkrampft. Skar begriff, weshalb Del so besorgt war. Helth wartete. Er wußte nicht, worauf, aber er wartete.
Skar verscheuchte den Gedanken und ging rasch auf Gowenna zu.
Sie hatten sie zugedeckt, so gut es ging, aber sie zitterte trotzdem vor Kälte, und als Skar neben ihr niederkniete und nach ihrer Hand griff, fühlte sich ihre Haut kalt wie Eis an. Skar vermied es absichtlich, Gowenna direkt anzusehen. Sie hatten nicht einmal genug Wasser gehabt, das eingetrocknete Blut vollends aus ihrem Gesicht zu waschen, und die braunrote Kruste war mit dem Narbengewebe auf ihren Zügen zu einer grausigen Maske verschmolzen. Noch vor wenigen Tagen hätte der Anblick Skar nichts ausgemacht. Aber sein Panzer war durchbrochen, endgültig, und er war jetzt verwundbarer als zuvor.
»Kannst du mich verstehen?« fragte er leise. Er hob nun doch den Blick, bemühte sich aber angestrengt, nur ihre unversehrte rechte
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