Enwor 5 - Das schwarze Schiff
Skar konnte mehr vom diesseitigen Teil der Eisebene erkennen; der Grund, weshalb er überhaupt hierhergekommen war.
Del und er hatten Gowenna versorgt, so gut sie es konnten — hauptsächlich Del, der in dieser Beziehung eine Menge dazugelernt zu haben schien, seit sie sich wiedergefunden hatten —, aber sie konnten es eben nicht sehr gut. Es gab weder saubere Tücher für einen Verband noch heißes Wasser, um die klaffende Wunde in Gowennas Schädel zu säubern, noch irgend etwas, um ihre Schmerzen zu lindern. Sie war bei Bewußtsein gewesen, die ganze Zeit, aber sie hatte weder auf ihre Fragen geantwortet noch sonst irgendwie reagiert; ihr Zustand erinnerte Skar auf bedrückende Weise an den Velas, und vielleicht — die Vorstellung war absurd, aber sie hatte sich einmal in ihm festgekrallt und blieb — war es nicht einmal ein Zufall. Schließlich konnte er es nicht mehr ertragen und ließ Del mit Gowenna allein, um sich noch einmal und im hellen Tageslicht auf diesem Teil der Ebene umzusehen. Wenigstens hatte er dies Del und den anderen gegenüber behauptet, auch wenn er — und wohl auch Del — ganz genau wußten, daß das nicht der wahre Grund war. In Wirklichkeit war er geflohen. Er hatte es einfach nicht mehr ertragen; nicht in der Höhle, nicht in der Nähe all dieser zum Tode verdammten Männer, nicht einmal mehr in der Dels. Skar hatte niemals Angst vor Höhlen oder engen Räumen gehabt, aber jetzt, in diesem Moment, hatte er plötzlich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er war die letzten Schritte hier herauf gerannt, nicht mehr gegangen.
Ein eisiger Windhauch streifte ihn. Der Sturm, der auf der anderen Seite der Berge noch immer mit ungebrochener Wut heulte, war auch hier noch fühlbar; nicht mehr so wie drüben, aber schlimm genug. Die steinernen Grate und Wälle, die seine Gewalt eigentlich brechen sollten, lenkten die eisigen Böen ab, zerrissen sie aber auch zu unzähligen einzelnen Wirbeln und ließen winzige Schneehosen und kleine Dämonen aus wirbelndem Eis und Schneestaub über die Ebene tanzen; Skar konnte die Kälte beinahe
sehen.
Aber vielleicht war es auch gar nicht die Kälte, die ihn schaudern ließ. Er war nicht sicher, ob sein Entschluß, auf dieser Seite der Bergkette weiterzumarschieren, richtig war. Die Landschaft vor ihnen war anders, vollkommen anders als die auf der Seeseite. Vor ihm waren... Er suchte vergeblich nach einem Wort, einer passenden Bezeichnung oder auch nur Umschreibung dessen, was er sah. Es waren
Dinge.
Gebilde aus Eis und Schnee und erstarrter Luft, die die Ebene wie ein gefrorener gläserner Wald bis zum Horizont bedeckten, manche so klein, daß er sie von seinem erhöhten Standpunkt aus nur als Punkte erkennen konnte, andere gewaltig, groß wie eine Festung. Es gab keine Regel, kein Muster, dem sie folgten, kein System. Es war wie damals in Urcöun, der Festung der Sternengeborenen, aber schlimmer, tausendmal schlimmer. Unter ihm erstreckte sich ein gewaltiges weißes Labyrinth, in dem nicht einmal das Licht beständig war, sondern flackerte, hierhin und dorthin kroch, als würden sich die blinkenden Eisflächen ständig bewegen und die Strahlen der Sonne in ständig neuem Winkel reflektieren, in dem die Schatten lebendig waren und die Furcht Körper bekommen hatte. Da und dort glaubte er eine vertraute Form zu erkennen, eine Linie, an die sich sein Blick klammern, ein Bild, das er wiedererkennen oder wenigstens einordnen konnte, aber es gelang ihm nie, sie wiederzufinden, wenn er einmal wegsah, und ein paarmal hatte er geglaubt, eine Bewegung zu sehen.
Und es war ein Anblick von fast tödlicher Schönheit. Obwohl er Zeit gehabt hatte, sich daran zu gewöhnen, im gleichen Maße, in dem das Grau der Dämmerung dem erbarmungslosen Weiß dieses bizarren gläsernen Waldes wich, faszinierte ihn das Bild so sehr, daß es ihm unmöglich war, sich davon zu lösen. Eine seltsame, böse Verlockung ging von ihm aus, etwas, das ihn gleichermaßen mit Grauen erfüllte, wie es ihn anzog. Ein paarmal hatte er geglaubt, Stimmen zu hören, Stimmen, die verbotene Worte in einer uralten, seit Äonen vergessenen Sprache wisperten; Worte, die er nicht verstehen konnte und die ihn trotzdem auf sonderbare Weise berührten. So ähnlich, dachte er, mußte es sein, wenn man in ein Traumkristall blickte. Er hatte Männer gesehen, deren Geist zerbrochen war, auf ewig gefangen in den blitzenden Facetten dieser verbotenen weißen Steine. Vielleicht, dachte er mit einem
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