Enwor 5 - Das schwarze Schiff
ihm immer vermittelt hatte, kam nicht. »Nicht...«, flüsterte er. »Yar-gan — mach jetzt keinen Fehler!«
Seine Hände begannen zu zittern. Wie oft in Augenblicken der Gefahr sah er wieder alles mit phantastischer Klarheit, nahm er Dinge und Einzelheiten wahr, über die er normalerweise hinweggesehen hätte, ohne sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen: Die Unruhe, die die Freisegler gepackt hatte, etwas, was nicht nur Furcht allein war, das nervöse Zucken um Yar-gans Mundwinkel, die unsicheren kleinen Bewegungen, mit denen die Männer nach ihren Waffen griffen, die Blicke, mit denen sie verzweifelt nach einem Fluchtweg suchten, den es nicht mehr gab...
»Nicht kämpfen«, flüsterte er noch einmal. »Eine einzige falsche Bewegung, und wir sind alle tot.«
Yar-gan nickte, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt.
Skar sah sich um. Die beiden ersten Krieger waren näher gekommen, jedoch einen Schritt vor der Abzweigung stehen geblieben. Skar spürte, wie er von Blicken unsichtbarer, aus Eis gemeißelter Augen gemustert wurde, Augen, die hinter seine Stirn sahen und seine Gedanken lasen, Dinge in seiner Seele erblickten, die ihm selbst verschlossen waren.
Einer der beiden senkte seinen Schild, trat — sehr langsam, als wisse er, daß eine einzige unbedachte Bewegung den Sumpfmann zu einem Angriff verleiten mochte — noch einen weiteren Schritt vor und hob den Arm. Die Spitze des Schwertes, mit dem seine Hand verwachsen war, deutete nach rechts, den einzigen freigebliebenen Weg hinab. Der Nebel an seinem Ende trieb auseinander, als wäre die Bewegung des Eiskriegers das Zeichen dazu gewesen, und Skar erkannte ein niedriges, achteckiges Gebäude. Ein Teil seiner südlichen Wand war eingestürzt. Yar-gan atmete hörbar ein.
»Verdammt, Skar, das ist eine Falle!« murmelte er.
Skar ignorierte ihn. Sein Blick saugte sich am Gesicht des Eiskriegers fest. Aus dem glatten Visier war ein menschliches Antlitz geworden, Kinn und Nase, zuvor nur angedeutet, waren jetzt deutlich zu erkennen, der schmale Sehschlitz hatte sich zurückgebildet und war in der Mitte geschlossen, so daß zwei tiefe, noch leere Augenhöhlen entstanden waren. Es wirkte immer noch nicht völlig menschlich, sondern eher wie eine aus Eis gefrorene Totenmaske, in der die Züge dessen, den sie darstellen sollte, nur angedeutet, stilisiert waren.
Und doch hatte dieses Gesicht etwas seltsam Vertrautes...
Skar sah mit einem Ruck auf und starrte den zweiten Eismann an. Er war zu weit entfernt und sein Gesicht hinter den wogenden Nebelschwaden verborgen, die ihnen nachgekrochen waren wie eisiger Atem, aber er wußte, daß er unter seinem Helm die gleichen Züge erblicken würde. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte ein Gedanke hinter seiner Stirn auf, etwas, das mit seinem Traum und mit dem Dronte zu tun hatte, aber er verschwand zu schnell, als daß er ihn greifen konnte.
Mühsam löste er seine Hand vom Schwertgriff, drückte Yar-gans Waffenarm herunter und deutete in die Richtung, in die der Eiskrieger wies. »Wir gehen.«
»Du bist wahnsinnig!« keuchte Yar-gan. »Das —«
»Wir gehen«, sagte Skar noch einmal, so scharf, daß Yar-gan nicht weitersprach, sondern nur abwechselnd ihn und die beiden eisigen Kreaturen anstarrte. Nach einer Ewigkeit senkte auch er seine Waffe vollends und entspannte sich. Aber er steckte das Schwert nicht ein. »Wie du willst, Satai«, sagte er. Seine Stimme klang kalt.
Skar sah ihn einen Herzschlag lang schweigend an, drehte sich herum und ging langsam an ihm und den wartenden Eiskriegern vorbei.
S kar wußte nicht, wie viele Stufen sie in die Tiefe gestiegen waren. Er wußte nicht mehr, wie viele Rampen und Schächte sie hinabgegangen, über wie viele Hindernisse sie geklettert waren und wie viele Räume sie durchquert hatten. Die Zeit war bedeutungslos geworden, und nach einer Weile waren selbst die Schmerzen in seinen verkrampfen Muskeln verblaßt und das Jagen seines Herzens zu einem mühsamen, schweren Schlagen geworden. Über ihnen mußte die Sonne untergegangen sein, aber so wie es hier unter dem Eis niemals richtig hell wurde, wurde es auch nicht dunkel. Die Wände verstrahlten ein unwirkliches, graues Licht, in dem ihre Bewegungen abgehackt und mckhaft wirkten; schneller, als sie waren, und in dem man niemals wirklich sagen konnte, wie weit sich der Weg noch erstreckte, der vor ihnen lag. Die Gänge und Stollen schienen endlos, und
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