Enwor 5 - Das schwarze Schiff
aussehendes, aber trotzdem gefährliches Raubtier, das sich auf die Lauer gelegt hatte und darauf wartete, daß sein Opfer in die vorbereitete Falle lief. Die SHAROKAAN war keineswegs wehrlos. Der Ruf, der dem Dronte vorauseilte, der Mythos der Unbesiegbarkeit, fußte zu einem nicht geringen Teil auf der Taktik der schwarzen Mörder, ihre Opfer aus großer Entfernung zu schlagen; sie mit Feuer und Tod zu überziehen, lange ehe es zu einem wirklichen Kampf kommen konnte. Auch, wenn es dem Dronte gelingen sollte, den Kanal zu überwinden, so hatten sie ihm seine stärkste Waffe genommen. Er würde es nicht wagen können, seine Katapulte einzusetzen. Nicht auf diese kurze Distanz.
Ihr Höllenfeuer würde ihn selbst ebenso versengen wie sein Opfer.
Er verscheuchte die Gedanken an Kampf und Tod und wandte sich fröstelnd, um zum Achterdeck zurückzugehen. Jetzt, als sie neben der gewaltigen glatten Eiswand lag, erschien ihm die SHAROKAAN kleiner. Das Klatschen der Ruder hatte aufgehört, und das Schiff be-wegte sich kaum noch. Auch die Wellen, die es bei seiner Einfahrt in den See selbst verursacht hatte, verliefen sich langsam wieder, und die Wasseroberfläche würde in kurzer Zeit wieder so glatt und unbewegt sein wie zuvor. Skar blieb auf halber Strecke stehen und sah über die Reling aufs Wasser hinab. Rayans Vermutung, es hier mit einem gewaltigen schwimmenden Eisberg zu tun zu haben, war falsch gewesen. Die Strömung, die die SHAROKAAN auf ihrem Weg durch den Kanal begleitet hatte, war keine Strömung, sondern es waren die letzten Ausläufer der Flut. Unter dem Eis mußte Land sein, vielleicht nur eine Insel, aber immerhin festes Land. Vielleicht waren sie sogar an die Küste eines fremden, bisher unbekannten Kontinentes verschlagen worden. Aber wenn, dann war es ein Kontinent der Kälte und des Schweigens. Selbst der Mann oben im Mastkorb sah nichts als Eis und glitzerndes Weiß, obwohl der Blick von dort aus unzählige Meilen weit reichte, so klar, wie die Luft war.
Skar legte die Hände auf die Reling, beugte sich vor und brach mit der Linken ein Stück Eis ab.
»Was tust du da?«
Skar drehte den Kopf, als er Rayans Stimme hörte. Der Freisegler war lautlos herangekommen und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Seine beiden Veden-Leibwächter folgten ihm wie Schatten.
Skar deutete zuerst auf das Wasser, dann auf das Eisstückchen in seiner Hand. »Sieh selbst«, sagte er. Mit einer schwungvollen Bewegung warf er den Eisklumpen über Bord. Er tauchte unter, erschien Sekunden später wieder auf dem Wasser und tanzte einen Moment auf der Stelle.
Rayans Stirnrunzeln vertiefte sich. »Was soll das?« fragte er.
»Warte«, antwortete Skar. »Ich glaube, ich habe etwas entdeckt.«
Der Eisbrocken begann langsam, dem Sog der Strömung folgend, zur Mitte des Sees zu treiben. Plötzlich hielt er an, begann immer schneller zu kreiseln — und verschwand.
»Ein Sog«, stellte Rayan fest. »Und? Um das herauszufinden, brauchst du nicht deine und meine Zeit zu vergeuden. Siehst du diese Stelle dort?« Er deutete dorthin, wo der Eisbrocken verschwunden war. Das Wasser war dort ungewöhnlich glatt; wie Glas, das sorgsam poliert worden war. »Der See muß irgendwo einen Abfluß haben«, sagte er. »Deshalb ist die Strömung hier auch so schwach — das Wasser fließt beinahe so schnell ab, wie es hereinkommt. Und was soll uns das nutzen?«
Skar zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, gestand er. »Ich weiß nur gerne soviel wie möglich über meine Umgebung. Manchmal kann das sehr nützlich sein.«
»Wir sind soweit«, drang Dels Stimme in ihr Gespräch. Skar nickte, warf einen letzten Blick auf die trügerisch glatte Wasserfläche über dem Sog und streifte mit einer entschlossenen Bewegung den Umhang ab, der ihm bisher Schutz gegen die Kälte gewährt hatte.
Del kam näher und deutete mit einer Kopfbewegung auf das plumpe Heckkatapult, die einzige wirklich weitreichende Waffe der SHAROKAAN, das aus seiner Halterung auf dem Achterdeck entfernt und weiter zur Schiffsmitte hin auf einer provisorischen Rampe aus Balken und Tauen befestigt worden war. Der armlange Stahlbolzen auf der Sehne deutete jetzt nicht mehr auf die Wasseroberfläche, sondern in spitzem Winkel nach oben. Sein Schatten wies wie der Zeiger einer bizarren Sonnenuhr auf die verbrannte Stelle am Heck der SHAROKAAN, wo das Höllenfeuer des Dronte schon einmal gewütet hatte. Wäre Skar abergläubisch gewesen, hätte er es für ein schlechtes Omen
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