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Enwor 5 - Das schwarze Schiff

Enwor 5 - Das schwarze Schiff

Titel: Enwor 5 - Das schwarze Schiff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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waren. Eine Windböe riß den wehenden Schleier aus Grau und flockig fallendem Weiß auseinander, als hätte er in diesem Moment ein Anrecht auf besondere Klarheit, und er konnte den See erkennen; ein gewaltiges, perfekt gerundetes Loch, dessen seeseitige Begrenzung mit dem wogenden Grau des Ozeans verschmolz, so daß es aussah, als hätte ein Meeresungeheuer im Spiel ein gewaltiges Stück aus der Eismauer herausgebissen.
    Warum war er eigentlich hier? Nicht hier auf diesem öden Eisklotz, auf den sie der Dronte gejagt hatte, sondern überhaupt hier in diesem Geschehen, auf das er längst keinen Einfluß mehr ausübte? Warum hatte er es zugelassen, daß ihn nun Gowenna statt Vela zu einem Bauer in ihrem Schachspiel degradierte?
    Er wußte die Antwort nicht, noch nicht.
    Aber er würde sie finden. Irgendwo dort vorne, hinter den Schatten, von denen sie nur hoffen konnten, daß sie Berge waren und daß hinter ihnen ein anderes, weniger tödliches Land lag.

A ls die Sonne aufging, waren sie fünf Meilen vom See entfernt. Mit dem Ende der Nacht hörte es auf zu schneien; aber es wurde auch wieder kälter. Wind fauchte vom Meer herauf, als hätte sie der Winter, dem die SHAROKAAN in Anchor davongesegelt war, nun endgültig eingeholt wie ein eisiger Riese, der ihnen mit gewaltigen Schritten über den Ozean nachgeeilt war, vielleicht einzig, um ihnen zu zeigen, daß es selbst in einem Land der Extreme immer noch eine Steigerung geben konnte.
    Skar blieb einen Moment stehen, lud sein Bündel von den Schultern und nahm eine dicke wollene Decke heraus, die er wie einen zweiten Mantel um seinen Umhang warf. Sie nutzte nicht viel; der Wind biß selbst durch die dicksten Kleidungsstücke, und sein Körper erstarrte allmählich zu Eis. Die Männer taumelten jetzt mehr als sie gingen, und immer öfter hörte Skar dumpfe Schmerzlaute, wenn einer von ihnen fiel und sich mühsam wieder aufrichtete. Eine der ausgelaugten Gestalten war bereits liegengeblieben, und niemand, auch Skar nicht, hatte noch die Kraft gehabt, ihr wieder auf die Füße zu helfen.
    Sie konnten nicht anhalten. Die Männer wären dort, wo sie gerade standen, eingeschlafen und unweigerlich erfroren. Sie hatten nur noch die Wahl, weiterzugehen oder gleich hier aufzugeben, die Wahl zwischen Leben und Tod.
    Skar sah nach Osten. Jetzt, als das Licht beinahe waagerecht über den Horizont fiel, konnte er dort eine schmale gezackte Linie erkennen.
    Er ging, die Schmerzen in seinen Beinen und das dumpfe Pochen in seinen abgestorbenen Zehen mißachtend, schneller und versuchte, an Gowennas Seite zu gelangen. Sie war an der Spitze der Kolonne, und ihre Haltung erschien ihm, inmitten der wankenden, ausgelaugten Gestalten ringsum, auf fast anstößige Weise kraftvoll und aufrecht.
    Skar brauchte lange, um sie einzuholen. Obwohl er so rasch ausschritt, wie seine steif gewordenen Muskeln noch zuließen, bewegte er sich nur um eine Winzigkeit schneller als sie. Auch dies war ein Werk der Kälte. Der Schnee verwischte die Unterschiede in ihrem Äußeren, und sie und die Furcht ließen seine Überlegenheit dahinschmelzen.
    Als er näher kam, sah er, daß er sich getäuscht hatte. Gowenna war so erschöpft wie die anderen. Ihre Schritte erschienen nur kraftvoll, aber sie waren es nicht. Als er sie ansprach, reagierte sie nicht sofort, und ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen. Das rote Licht der aufgehenden Sonne überzog nun auch die gesunde Hälfte ihres Antlitzes mit tiefen, verätzt wirkenden Linien und neuen Narben, aus Schatten gebildet. Aber unter der Erschöpfung in ihrem Blick glomm noch immer das gleiche fanatische Feuer wie am ersten Tag. Haß, der noch immer und vielleicht stärker in ihr brannte und sie vorwärts trieb, ihren Körper gepackt hielt wie eine heimtückische Krankheit, die ihr keine Ruhe lassen würde; nicht, bis sie getan hatte, wozu sie hergekommen war. »Die Männer können nicht mehr«, sagte er, als wäre sie es, die das Kommando führte, und nicht er. »Wie weit ist es bis zu... deinen Bergen?« Er wußte nicht, ob ihr die unmerkliche Pause oder die Art, in der er die Worte betonte, auffiel. Wenn, so war sie zu erschöpft, um darauf zu reagieren. Müde hob sie den Kopf und sah erst nach rechts, dann nach links. Die Männer in ihrer Umgebung wirkten wie graue, bucklige Scherenschnitte gegen den Sonnenaufgang. Tote, dachte Skar wieder, die wie einmal in Gang gesetzte Maschinen einfach weiterliefen, bis auch das letzte bißchen Kraft verbraucht sein

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