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Enwor 5 - Das schwarze Schiff

Enwor 5 - Das schwarze Schiff

Titel: Enwor 5 - Das schwarze Schiff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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würde und sie wie ausgebrannte leere Hüllen einfach zusammenbrachen, um zu sterben.
    »Aufjeden Fall zu weit«, sagte Gowenna nach einer Ewigkeit. »Wir müssen rasten.«
    »Und wo? Du wirst fünfzig Leichname finden, wenn du sie hierauf dem Eis schlafen läßt.«
    Gowenna starrte einen Moment blicklos in den weißen, unberührten Schnee, der sich endlos vor ihnen ausbreitete. Sie blieb stehen, sah sich noch einmal um und deutete dann mit einer fordernden Geste auf Rayans Fernrohr, das noch immer in seinem Gürtel steckte. »Gib es mir.«
    Skar reichte ihr das Glas. Gowenna zupfte umständlich an den wollenen Lappen, die sie wie alle anderen zum Schutz vor der Kälte um ihre Hände gewickelt hatte, hauchte mehrmals auf die Linse und versuchte sie mit einem Zipfel ihres Umhanges von verkrustetem Eis und Rauhreif zu befreien. Ihr Atem gefror fast sofort zu einer neuen glitzernden Schicht, aber sie bekam das Glas wenigstens notdürftig frei. Lange Zeit starrte sie hindurch, schwenkte es hin und her und suchte die Ebene bis zu den Bergen methodisch ab. Auf ihrem Gesicht lag ein angespannter Ausdruck. Ihre Lippen preßten sich zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen, und ihre Hände umklammerten das Glas fester, als nötig gewesen wäre. So fest, daß es schmerzen mußte. Skar hatte das Gefühl, daß sie nach etwas ganz Bestimmtem Ausschau hielt. Schließlich setzte sie das Glas ab und deutete nach Norden, fast im rechten Winkel fort von ihrem bisherigen Kurs. »Dort.«
    Skar griff mit tauben Fingern nach dem Fernrohr und starrte angestrengt in die angegebene Richtung. Er sah sofort, was Gowenna entdeckt — oder wiedergefunden — hatte: Das Eis war, nicht viel weiter als eine Meile entfernt, entlang eines gezackten, allmählich breiter werdenden Risses aufgebrochen und an seinem Ende zu einem flachen Buckel hochgetürmt, kantige Schollen, die unter dem Druck der ungezählten Tonnen Eis, die sich dort aneinandergerieben hatten, überund aufeinandergeschoben worden waren. Der frische Schnee hatte an seiner rechten Seite eine fast mannshohe Verwehung gebildet, die den Hügel wie ein sanft gerundeter Hang zur Meerseite hin abschirmte.
    Der Sturm blies pulverigen Schnee in einer dünnen, durch die große Entfernung fast schwerelos wirkenden Wolke über die Anhäufung zermalmter Eisschollen.
    Skar setzte das Glas ab, schob es wieder unter seinen Gürtel und nickte. Jetzt, als er einmal wußte, wonach er zu suchen hatte, konnte er den Riß und den Eisbuckel an seinem Ende auch mit bloßem Auge erkennen. Er widersprach nicht, als Gowenna sich umdrehte und den Männern mit erhobener Stimme befahl, in nördlicher Richtung weiterzugehen. Eine Meile konnte eine lange Strecke sein für einen Mann, der am Ende seiner Kräfte war. Aber vielleicht fanden sie dort drüben Schutz vor dem unablässig heulenden Wind und der eisigen Kälte. Wieder wechselte er sein Bündel auf die andere Schulter, aber es half nichts. Die Last schien mit jedem Wechsel schwerer zu werden, und er spürte die scharfkantigen Schalen der Caba-Nüsse — alles, was sie an Nahrung mitgenommen hatten — wie winzige stumpfe Messerklingen durch den Stoff hindurch. Seine Schultern fühlten sich wund an, als wären sie zerschnitten, und für einen bangen Moment schien die Ebene vor seinen Augen zu verschwimmen. Er wankte, machte einen schnellen Schritt und fand sein Gleichgewicht wieder. Die Schwäche kam nicht allein von der Anstrengung der letzten Tage, das wußte er. Sie war vielmehr Folge des gnadenlosen, kräftezehrenden Kampfes, der tief in seinem Inneren tobte. Das Drängen wurde stärker, und wenn er in sich hineinlauschte, dann konnte er die dumpfe, wispernde Stimme jetzt ununterbrochen hören. Er wußte, daß es dunkle und gefährliche Geheimnisse waren, die sie ihm zuflüsterte. So wie Gowennas Haß mit jedem Meter, den sie sich dem Gebirge näherten, heller zu lodern schien, so gewann auch sein Dunkler Bruder mit jedem Schritt an Kraft. Je schwächer er selbst wurde, desto stärker wurde er.
    Die Meile war mehr als eine Meile, und der Eisbuckel war kein Buk-kel, sondern eine mächtige, zwanzig Fuß hohe und mehr als fünfmal so breite Masse zerborstener, gesplitterter Eisschollen, die sich wie ein künstlicher Berg aus der Ebene erhob; Eis, das zermalmt und mit Urgewalt aus der Tiefe der Erde herausgepreßt worden war. Der Sturm nahm an Kraft zu und zerrte an ihren Haaren und Kleidern, und sein Heulen klang zornig, als ahne er, daß ihm seine

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