Enwor 5 - Das schwarze Schiff
sich hatten. Die Sonne hockte wie ein gewaltiges, loderndes böses Auge über dem Horizont und überschüttete das Land mit flüssigem Gold und der Illusion von Wärme, und über den zerschrundenen Gipfeln der Berge führten Elmsfeuer einen stummen wirbelnden Tanz auf wie kleine, glühende Feen, die die Ankunft der Nacht begrüßen. Der Wind war noch kälter als an den Tagen zuvor, und in seinem Heulen und Wimmern schwangen geheimnisvolle Worte mit; und ein Lachen, ebenso fremd wie bösartig.
Zwanzig Meilen, dachte Skar. Vielleicht ein paar mehr, vielleicht weniger. Aber Gowennas Schätzung war annähernd richtig gewesen. Kein Wunder, bedachte man, daß die Schätzung keine Schätzung war. Fünfzigtausend Schritte, von denen sie jeder einzelne tiefer in diese weiße, kälteklirrende Hölle hineingeführt hatte.
Sie waren noch zweiundvierzig, als sie sich über die ersten vereisten Buckel quälten und auf die zerrissenen Flanken der Berge zuwankten. Waren es überhaupt Berge? Skar blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und hob schützend die Hand über die Augen, als ihn das rote Licht der untergehenden Sonne, von den vereisten Felsen wie von einem gewaltigen, vielfach gebrochenen Spiegel reflektiert und verstärkt, blendete. Die dunklen, von glitzerndem Eis wie von einem schimmernden Panzer eingehüllten Mauern zogen sich in beide Richtungen bis zum Horizont dahin, einer imaginären Linie folgend, die die Insel in zwei Hälften teilte. Ihre Konturen schienen ihm fast zu regelmäßig, zerschrunden und rissig zwar, aber trotzdem einer eigenen, schwer zu fassenden Geometrie folgend. Das Bild verschwamm vor seinen Augen, als er einige Sekunden hingesehen hatte.
Er drehte sich um, zum vielleicht hundertsten Male, seit sie losmarschiert waren, und ließ den Blick über die zerrissene Linie grauer Gestalten streifen, die hinter ihm über das Eis wankten. Sie hatten einen hohen Preis gezahlt. Achtzehn von ihnen waren tot; zwei in einem Schlaf, aus dem sie nicht wieder aufwachen würden, in der Ruine draußen auf dem Eis zurückgeblieben, die übrigen einer nach dem anderen unterwegs zusammengebrochen.
Einer pro Meile, dachte er. Aber vielleicht war das auch der Tribut, den sie diesem Land zollen mußten, den es dafür forderte, von etwas Lebendem besudelt zu werden.
Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, auch nicht, als er weiterging und das Gelände schwieriger wurde. Die Mauer, die die Welt vor ih-nen begrenzte, war nicht sehr hoch. Siebzig, an manchen Stellen vielleicht hundert Fuß, da und dort auch weniger als die Hälfte, nicht viel höher als ein normaler, von Menschen geschaffener Festungswall, aber das Eis schliff jeden Vorsprung und jede Kante glatt, machte aus sanft ansteigenden Hängen unübersteigbare, tödliche Rutschbahnen und ließ kaum meterhohe Hindernisse zu unüberwindlichen Barrieren werden, die sie immer wieder zu Umwegen oder ebenso kräftezehrenden wie gefährlichen Klettereien zwangen. Es wurde dunkler, und gleichzeitig fiel die Temperatur weiter. Der Wind nahm zu wie am Abend vorher, und die Luft roch durchdringend nach Schnee. Die Sturmböen brachen sich heulend an den Felsen, und selbst dieses Geräusch klang kalt.
Jemand berührte ihn an der Schulter. Er blieb stehen, drehte sich um und starrte in das eingefallene graue Gesicht unter der Kapuze. Helth. Er war während des gesamten Marsches in seiner Nähe geblieben. »Sie sind immer noch da«, murmelte er.
Skar blickte nach Westen. Natürlich sah er die Gestalten nicht. Die Dunkelheit hatte sie vollends verschluckt, und er hätte sie selbst mit seinem Fernrohr jetzt nicht mehr ausmachen können. Aber er wußte, daß sie da waren. Er fühlte ihre Anwesenheit wie einen üblen, durchdringenden Hauch. Es war das Böse. Etwas, das dem
Ding
in seinem Inneren mehr verwandt war, als er zugeben wollte. Es war, als schrie etwas in seiner Seele diesen weißen, eisgepanzerten Gestalten eine stumme Herausforderung entgegen. Oder ein Willkommen.
»Und?« fragte er. Seine Lippen waren taub vor Kälte, und seine eigene Stimme kam ihm fremd vor.
»Wir müssen etwas tun«, fuhr Helth fort. Seine Finger spielten nervös mit dem Ende seines Gürtels, und seine Stimme klang nicht mehr wie die eines stolzen Veden. Er war endgültig zu dem geworden, was er eigentlich die ganze Zeit über gewesen war. Ein Kind, dachte Skar, das einen Erwachsenen um Hilfe bittet.
»Vielleicht finden wir hier irgendwo eine Höhle oder einen Felsvorsprung, der uns Schutz
Weitere Kostenlose Bücher