EONA - Das letzte Drachenauge
zum Vorschein. »Sethon sucht nach einem jungenhaften Lord, nach einem Contraire und nach einem Inselbewohner. Ihr beide könnt eure Identität wechseln, aber ich kann nicht kleiner werden oder meine Hautfarbe verändern.«
»Passt du da wirklich rein?« Es war ein sehr schmaler, mit Stroh ausgelegter Hohlraum, an dessen Längsseite ein schmales Stoffbündel gestopft war.
»Haltet mal«, sagte er und gab es mir.
Kaum hatte ich die grobe Baumwolle berührt, wusste ich, dass Kinras Schwerter darin waren. Ihre vertraute Wut durchzuckte mich sengend und verstärkte meine Kopfschmerzen noch. Die schwarzen Perlen an meinem Arm klickten, als wollten sie die Schwerter begrüßen, die einst auch meiner Vorfahrin im Amt des Drachenauges gehört hatten. Ich schob die Hand in die Falten des Bündels und schlug den Stoff zurück, sodass die mit Mondstein und Jade besetzten Griffe und der obere Teil eines mir vertrauten Lederbeutels zum Vorschein kamen, der meinen Drachenaugen-Kompass enthielt. Neben mir glitt Ryko in seinen Schlupfwinkel und verdrehte seinen großen Körper, damit er in den schmalen Hohlraum passte. Dann streckte er die Hände nach den Schwertern aus. Ich packte sie wieder ein, gab sie ihm zurück und spürte dabei den Sog ihrer Macht. Wenigstens ein paar Schätze des Spiegeldrachen waren in Sicherheit. Ich griff nach meiner Gürteltasche und ertastete darin etwas Langes, Schmales: Auch die Totentafeln meiner Vorfahren waren also in Sicherheit.
»Helft mir, die Bretter wieder an ihren Platz zu legen«, sagte Ryko. »Und dann schiebt die Matte wieder drüber.«
»Bekommst du da drin denn Luft?«
»Jede Menge.« Er tätschelte mir den Arm und lächelte gezwungen. »Macht Euch keine Sorgen.«
Mit vor plötzlicher Angst ungeschickten Fingern passte ich die Bretter über seinem angespannten Gesicht ein. Nun noch ein Griff und die Strohmatte lag wieder da, wo sie hingehörte. Als ich mich darauf ausstreckte und die Falten meines langen weißen Gewands wieder sittsam ordnete, dämmerte mir endlich, was ich da trug: die Trauerrobe einer Frau, die ihr Kind in der Schwangerschaft verloren hatte, wobei der orange Gürtel besagte, dass es ein Junge gewesen war. Ich fasste mit den Händen an meine Schläfen und tastete nach dem verdrehten Tuch meines Kopfschmucks, das mein Haar verbarg und anzeigte, dass ich meinen Verlust erst vor Kurzem erlitten hatte. Kaum ein Mann würde einer Frau nahekommen wollen, die so vom Pech verfolgt war, oder gar ihr Krankenlager durchsuchen. Eine ausgeklügelte List. Und ein guter Grund, in einer so gefahrvollen Zeit zu reisen, da es hieß, eine Frau könne sich von solchem Unglück reinwaschen, indem sie vor ihrer nächsten Blutung in den Quellen der Mondfrau badete, einem Bergsee, der für die Götter besondere Bedeutung hatte. Und doch war mir unbehaglich zumute, ein so trauriges Kleidungsstück zu tragen. Ich strich über das rote Buch in meinem Ärmel wie über einen Glücksbringer und der sanfte Druck der schwarzen Perlen tröstete mich.
Die Stoffplane hinten am Wagen wurde hochgehoben. Ich schloss die Augen und bemühte mich, meine hastigen Atemzüge auf den langsameren Rhythmus des Schlafs herunterzuschrauben.
»Ich bin’s«, sagte eine vertraute Stimme.
Als ich den Kopf hob, sah ich, wie Vida sich auf den langsam rollenden Wagen hievte. Statt des üblichen Kittels und der bequemen Hose trug sie das Gewand eines Hausmädchens. Auch wenn ihre Kleidung sehr schlicht war – der braune Stoff war geschickt drapiert und mit einer Schärpe kunstvoll gebunden, sodass ihre üppigen Rundungen betont wurden. Sie ließ die Leinenplane wieder herunter und kroch auf mich zu, wobei ihr Rock an einem der drei großen Reisekörbe hängen blieb, die an die Seitenwand geschnallt waren. Sie zerrte an ihrem Gewand und fluchte leise.
»Komm, ich helfe dir.« Ich stützte mich auf die Ellbogen, doch sogleich verschwamm mir alles vor den Augen, der Karren begann sich zu drehen und ich ließ mich wieder auf die Matte sinken.
»Finger weg«, fuhr sie mich an. Endlich konnte sie ihr Gewand losmachen und kam zu mir. »Ihr seht schrecklich aus, aber das passt wahrscheinlich zu Eurer Tarnung.« Sie nahm meine Hand, doch die Geste hatte nichts Tröstliches. »Wir wurden schon einmal angehalten und sind durchgekommen. Ihr müsst nur einen kühlen Kopf bewahren. Und falls Ihr das nicht könnt, haltet einfach den Mund und tut so, als wärt Ihr stumm.« Ihre Worte klangen zwar schroff und streng, doch ihre
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