EONA - Das letzte Drachenauge
gepresst.
Dela sah ihn zornig an.
»Sie muss es erfahren«, erklärte er.
Eine Ahnung machte mich beklommen. »Was erfahren? Sag es mir. Sofort!«
Ryko straffte sich und tat, wie ich befohlen hatte. »Sechsunddreißig Dorfbewohner kamen ums Leben. Und fast achtzig wurden verletzt.« Er senkte den Kopf. »Nur um mich zu retten.«
Meine Kehle war wieder trocken. »Sechsunddreißig?«
So viele Menschen waren gestorben, weil ich meine Macht nicht zu kontrollieren vermochte. Weil ich leichtfertig meinen Drachen gerufen hatte, obwohl ich wusste, dass mir dazu das Können fehlte.
»Mögen die Götter mir vergeben«, flüsterte ich. Doch selbst wenn sie es täten: Wie konnte ich mir selbst vergeben?
Ryko machte eine ungelenke Verbeugung und versuchte, die schlingernden Bewegungen des Wagens auszugleichen. »Mylady, seid nicht besorgt. Zwar habt Ihr mich um einen hohen Preis geheilt, doch das ist nicht Eure Schuld. Die Götter werden wissen, dass nicht Ihr Euch diese Toten zuzuschreiben habt.« Er wandte sich an Dela. »Es war Idos Schuld. Er hat sich des Bewusstseins von Mylady bemächtigt, als sie mich heilte.«
Dela schnappte nach Luft. »Ido hat all die Zerstörung verursacht? Hatte er es wieder auf Eure Macht abgesehen?«
Ich zögerte. Wie leicht wäre es, ihn für all die Toten verantwortlich zu machen und so aus dem schweren Joch der Schuld zu schlüpfen! Aber ich durfte meine Freunde oder mich nicht wieder belügen. Wenn ich in den letzten Wochen eines gelernt hatte, dann, dass solche Lügen tödlich sein konnten.
»Nein«, sagte ich. »Ido hat uns alle gerettet. Als ich Ryko zu heilen versuchte, hätten mich die zehn beraubten Drachen beinahe auseinandergerissen.«
Die beiden sahen mich verständnislos an.
»So nenne ich die Tiere der ermordeten Drachenaugen. Ich glaube, sie wollen sich mit ihrer Königin vereinigen, doch ich weiß nicht, warum. Lord Ido und sein Drache haben sie zurückgedrängt.«
Rykos Augen verengten sich. »Das klingt nicht nach Ido. Jeder Atemzug von ihm ist von Eigennutz bestimmt. Wenn es stimmt, was Ihr sagt, muss er einen dunklen Grund haben, Euch zu helfen.«
Ich ging nicht auf diesen Seitenhieb gegen meine Aufrichtigkeit ein – Ryko hatte allen Grund, mir zu misstrauen. Schließlich hatte er am meisten zu leiden gehabt unter meinen Lügen. Obwohl zu meinen Gunsten zu sagen ist, dass die größte Lüge – meine Verkleidung als Mann – mir von meinem Meister aufgezwungen worden war. Vielleicht würde Ryko mir eines Tages vergeben. Jetzt würde ich seine Enttäuschung auf mich nehmen.
»Ich weiß nur, dass er die zehn Drachen vertrieben hat und dass wir ohne ihn nicht überlebt hätten.«
»Wo ist Ido?«, fragte Dela. »Ich verstehe das nicht. Wie hat er sie vertreiben können und –«
»Verzeihung.« Das war Sollys barsche Stimme.
Der Wagen schwankte unter dem Gewicht von jemandem, der noch zustieg. Dann sah der Widerstandskämpfer neben Lady Dela durch die Luke.
»Ryko, von hinten kommt ein Trupp Soldaten«, sagte er dringlich. »Sieht nach einer Bergpatrouille aus. Sie haben uns entdeckt, bevor du aussteigen konntest.« Er neigte rasch den Kopf vor mir und verschwand aus meinem Blick.
Ryko runzelte die Stirn. »Ein Trupp Soldaten so hoch in den Bergen? Ich hoffe, Seine Majestät ist in Sicherheit.« Er warf mir einen Blick zu. »Wir holen den Perlenkaiser zurück.«
Einen Moment lang verschlug es mir den Atem vor Erleichterung. »Er lebt also?«
»Soweit wir wissen, ja«, erwiderte Dela. »Laut Ryko gibt es gleich hinter dem nächsten Dorf eine sichere Zuflucht. Wenn alles gut gegangen ist, müsste er dort sein.«
Sie zog sich von der Luke zurück. Als sie wiederkam, bestätigte sie Sollys Nachricht mit einem besorgten Nicken. »Sie kommen sehr schnell näher, Ryko«, fügte sie hinzu. »Du musst in die Kiste steigen.« Sie packte mich bei der Schulter. »Ihr und ich, wir sind Mann und Frau. Ich bringe Euch zu den Quellen der Mondfrau, damit Ihr gesundet. Habt Ihr verstanden?«
»Weiß die Armee, dass wir in dieser Gegend sind?«, fragte ich.
»Nein, wahrscheinlich handelt es sich nur um einen der üblichen Kundschaftertrupps. Bisher sind wir durch alle Kontrollpunkte gekommen. Denkt einfach daran, dass Ihr meine kranke Frau seid.« Sie schloss die Luke.
Ryko hatte meine Strohmatte bereits an einer Ecke angehoben und nahm die Bodenbretter des Wagens heraus.
»Was machst du da?«
»Ich verstecke mich.« Er hob ein weiteres Brett hoch, und ein Geheimfach kam
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