EONA - Das letzte Drachenauge
genau, dass der Perlenkaiser noch am Leben ist?«
Ich war mir nicht sicher, doch der Gedanke, dass Sethon Kygo aufgespürt und umgebracht haben könnte, war zu schrecklich. »Andernfalls hätten wir davon gehört. Tozay hat ein weitreichendes Netz aus Kundschaftern.«
»Immerhin haben seine Kundschafter nicht herausgefunden, wo er sich aufhält«, entgegnete Dela. »Und Ryko …« Sie wandte den Kopf ab, als hätte der Wind ihr die Tränen in die Augen getrieben.
Nur Ryko wusste, wo seine Kameraden von der Garde den Perlenkaiser versteckt hielten. Vorsichtig wie immer, hatte er dieses Wissen mit niemandem geteilt. Und nun hatte das Blutfieber ihn um den Verstand gebracht.
»Wir könnten ihn noch einmal fragen«, schlug ich vor. »Vielleicht erkennt er uns. Ich habe gehört, es gibt oft noch einen lichten Moment vor …«
»… vor dem Tod?«, brachte sie mühsam hervor.
Ich setzte ihrem Kummer den meinen entgegen. »Ja.«
Sie sah mich kurz an und war wütend, dass ich keine Hoffnung für ihn heuchelte. Dann senkte sie den Kopf.
»Wir sollten zu ihm gehen«, meinte sie. »Tozay sagt, es geht nicht mehr lange.«
Mit einem letzten Blick auf die schweren Wolken raffte ich meinen unförmigen Rock, stieg hinter Dela den Pfad empor und genoss es stumm, lange, trittsichere Schritte zu machen.
Das robuste, vom Wetter gebleichte Fischerhaus war in den letzten Tagen unsere Zuflucht gewesen. Es lag einsam und man konnte gut erkennen, ob sich jemand vom Land her oder über das Wasser näherte. Ich blieb oben am Ende des Weges stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und richtete meinen Blick auf das ferne Dorf. Kleine Fischerboote fuhren schon aufs Meer hinaus und darin saßen Widerstandskämpfer und hielten Ausschau nach Sethons Kriegsflotte.
»Wappnet Euch«, sagte Dela, als wir zum Haus kamen. »Sein Zustand hat sich sehr verschlechtert.«
Am Abend zuvor hatte ich noch bis Mitternacht bei Ryko gesessen und den Eindruck gehabt, der Insulaner würde sich tapfer halten. Doch jeder wusste, dass die Geisterstunden vor der Morgendämmerung die gefährlichste Zeit waren für einen Kranken – die kalte, graue Einsamkeit machte es den Dämonen leicht, die unbewachte Lebenskraft aufzuzehren. Dela hatte die frühe Wache an seinem Lager übernommen, doch anscheinend hatte auch ihre liebende Wachsamkeit die dunklen Geister nicht vertreiben können.
Sie hielt sich zurück, als ich die roten Glücksfahnen, die die Schwelle schützten, beiseiteschob und ins Zimmer trat. Der Flehende des Dorfes kniete noch in der gegenüberliegenden Ecke, stimmte aber keine Krankengebete mehr an. Er rief Shola an, die Göttin des Todes, und hatte seine Gewänder mit grobem weißen Tuch bedeckt, um die Königin der Anderwelt zu ehren. Ein Lampion schaukelte an einer roten Schnur, die er in den gefalteten Händen hielt, und sandte sein schwankendes Licht auf die abgespannten Gesichter rings um Rykos Lager. Dort waren Meister Tozay, seine älteste Tochter Vida und der treue, hässliche Solly versammelt. Ich hustete, da der dichte Nelkenrauch, der den Gestank nach Erbrochenem und nach Durchfall überlagern sollte, mir die Kehle zuschnürte.
Im unheimlichen Licht der schwingenden Laterne mühte ich mich, die Gestalt auf der Strohmatratze am Boden zu erkennen. Noch nicht , betete ich, noch nicht . Ich musste mich von ihm verabschieden.
Ich hörte, wie Ryko keuchte, noch bevor ich das allzu rasche Heben und Senken seiner Brust sah. Er hatte nur ein Lendentuch an, seine dunkle Haut war grau und wächsern geworden und seine einst so muskulöse Gestalt war abgemagert und schwach.
Man hatte ihm die festen Leinenverbände abgenommen und seine schwärenden Wunden freigelegt. Seine Hand – schwarz und aufgequollen nach der Folter durch Ido – ruhte auf seiner Brust. Aber noch erschreckender war die lange, klaffende Wunde von der Achsel bis zur Taille. Das geschwollene Fleisch hatte an manchen Stellen die grob vernähte Wunde aufbrechen lassen und man konnte bleiche Knochen und grellrotes Gewebe sehen.
Der Kräuterheiler schlurfte herein. Er hatte eine große Schüssel dabei, aus der beißender Dampf aufstieg, und murmelte mit tiefer Stimme Gebete über der schwappenden Flüssigkeit. Am Vorabend hatte mir dieser freundliche, immer erschöpfte Mann bei meiner Nachtwache Gesellschaft geleistet. Er wusste, dass seine Fähigkeiten angesichts der Verletzungen seines Patienten nicht ausreichten, doch er hatte alles versucht. Und er versuchte es noch immer, obwohl
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