EONA - Das letzte Drachenauge
glaubte an eine andere Legende der Perlenkette: dass seine geistige und körperliche Vereinigung mit mir diese Waffe erst schaffen werde. Und es wäre ihm fast gelungen, mir diese Vereinigung aufzuzwingen. Manchmal spürte ich noch seinen eisernen Griff um meine Handgelenke.
»Alles in Ordnung mit Euch?«, rief Dela noch einmal.
Sie stand oben auf dem steilen Pfad, und obwohl sie die Drachen weder sehen noch spüren konnte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Ich hob meine zitternde Hand und hoffte, sie würde die Nachwirkungen meiner Angst nicht bemerken. »Mir geht’s prima.«
Und doch hatte ich meinen Drachen verlassen, um mich dieser bitteren Woge des Verlangens zu stellen. Ich konnte nicht viel tun, doch ich durfte sie nicht allein lassen. Mit dem nächsten Atemzug nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, konzentrierte mich auf die innere Schau und tauchte erneut ein in die Energiewelt.
Das krachende, schlingernde Chaos war verschwunden, und die Himmelsebene war wieder ein ruhiges Kommen und Gehen von Edelsteinfarben. Der Spiegeldrache sah mich ruhig an und seine Aufmerksamkeit streifte durch meinen Geist. Ich sehnte mich danach, seine Wärme wieder zu spüren, doch ich ließ seine Erscheinung vorbeigehen. Falls die trauernden Drachen durch unsere Vereinigung aus dem Exil herbeigerufen worden waren, durfte ich nicht riskieren, dass sie wiederkamen. Schließlich war ich kaum in der Lage, die Kraft meines eigenen Drachen zu beherrschen – wie sollte ich da zehn Geisttiere lenken, die wegen des Mordes an ihren Drachenaugen ohnehin aus dem Gleichgewicht waren? Und falls diese trauernden Wesen nun auf meiner Vereinigung mit meinem Drachen lauerten, musste ich einen Weg finden, mich ihrer Verlassenheit zu erwehren, oder ich würde die Drachenkünste nie erlernen, mit denen man die Elemente beherrschte und das Land ernährte.
Auf seinem Platz im Nordnordwesten wand sich der blaue Drache noch immer unter schrecklichen Schmerzen. Am Vortag hatte ich seine Macht anrufen wollen wie zuvor im Palast, doch diesmal hatte er nicht reagiert. Ohne Zweifel hatte Lord Ido seine Qualen verursacht. Wie alle unsere Qualen.
Seufzend verließ ich die Energie-Ebene wieder. Aus den pulsierenden Farben wurden wieder die festen Umrisse und das klare Licht des Strandes, und Delas sich nähernde Gestalt schälte sich heraus. Selbst in der einfachen Kleidung eines Fischers und mit dem Arm in einer Schlinge schritt sie einher wie eine Hofdame und ihr anmutig schwingender Gang bildete einen seltsamen Gegensatz zu dem grobem Kittel und der rauen Hose. Da sie ein Contraire war – ein Mann, der beschlossen hatte, als Frau zu leben –, hätte ich eigentlich gedacht, dass es ihr leichtfallen müsste, wieder Männersachen zu tragen und männliches Verhalten anzunehmen. Von wegen! Aber ich musste ja ganz still sein. Nach vier Jahren, in denen ich so getan hatte, als wäre ich ein Junge, fiel mir die Rückkehr zur Weiblichkeit genauso schwer. Ich beobachtete Delas kleine eilige Schritte und ihr elegantes Auftreten. Sie wirkte fraulicher, als ich es je sein würde.
Ich suchte mir einen Weg durch die Felsen zu ihr und setzte meine Schritte dabei so leicht und sicher, dass mein Herz jubelte. Meine Vereinigung mit dem Spiegeldrachen hatte meine lahme Hüfte geheilt. Ich konnte ohne Schmerzen und ohne zu hinken gehen und laufen. Es hatte nicht viele Zeiten und Gelegenheiten gegeben, wo ich diese herrliche Gabe genießen konnte: ein morgendlicher Wettlauf am Strand, bei dem jeder platschende Schritt ein Freudenschrei gewesen war, und kurze Momente wie dieser: rasche, heimliche Vergnügungen zwischen all der Angst und Trauer.
Dela überwand die kurze Strecke zwischen uns und aus ihrem selbstsicheren Gang wurde ein stolperndes Rennen. Ich ergriff ihre ausgestreckte Hand.
»Geht es ihm schlechter?«, fragte ich.
Delas düsterer Blick und ihre rot geränderten Augen waren mir Antwort genug. Unser Freund Ryko lag im Sterben.
»Meister Tozay sagt, seine zerfetzten Gedärme haben ihn vergiftet.«
Ich wusste von Rykos schrecklichen Verletzungen, aber ich hätte nie gedacht, dass er ihnen erliegen würde. Er war immer so stark. Als Schattenmann, als Mitglied der Eunuchen-Palastwache also, die die königliche Familie beschützte, hatte er sich seine Kraft und seine männliche Energie durch eine tägliche Dosis Sonnenpulver erhalten. Dass er dieses Mittel drei Tage lang nicht hatte einnehmen können, hatte ihn womöglich unheilbar geschwächt. Vor dem
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