Epicordia
sehr sie doch der Gnade und dem guten Willen der Bewohner
Epicordias ausgeliefert sein würden.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, während sie
Geneva mutig folgte, um bald von der Dunkelheit Epicordias verschluckt zu
werden.
3. Kapitel, in dem das Fremde in der Dunkelheit doch so überaus menschlich
erscheint.
Da ist ein kleines Haus, das auf meinem Herzen
steht.
 Joachim Neethen
Drei Sterne, ein Gebet
und die Dämmerung.
Das war es, worauf der Mann mit der
düsteren Fassade wartete.
Die Hitze des Tages wehte mit dem
Abend fort durch die sandsteinfarbenen Gassen, in denen der islamische Teil der
Bevölkerung Tee trank und Schach spielte und der jüdische Teil ruhte. Denn am
siebten Tage sollte der Mensch ruhen, wie es jener ferne Schöpfergott im ersten
Buch Mose getan hatte.
Doch sobald der dritte Stern
aufginge, würde der Schabbat enden und das Leben mit einem Male zurückfluten in
die StraÃen und Gassen. Die Menschen würden bis spät in die Nacht arbeiten,
feiern und leben.
Doch noch herrschte Ruhe.
Von seinem Platz hier oben, über
jener berühmten Mauer, schien ein Rest der Taghitze über den Dächern zu
flirren.
Doch das Wichtigste an diesem noch
kurz anhaltenden Zustand war die Tatsache, dass auch er Ruhe hatte.
Hier war der einzige Ort, den er
kannte, an dem er Ruhe fand, an dem er nicht beständig von jenem Bösen bedrückt
wurde, in dessen Diensten er dieser Tage Dinge tat, die selbst für sein
Gewissen eine Ãberwindung darstellten. Warum ihm also ausgerechnet hier eine
Verschnaufpause gestattet wurde, blieb ihm schleierhaft.
Welcher Gott â so es denn einen gab
â in diesem groÃen weiten Universum, könnte auch nur erwägen, ihm jemals für
das, was er tat, Vergebung zuteilwerden zu lassen? Oder war es gar kein Gott,
sondern am Ende bloà eine Lücke in dem ihn umspannenden, dichten Netz aus
Dunkelheit?
Einerlei.
Am Ende war es ohnehin nur das
Resultat, das zählte. Und das hieà in diesem Fall: Aufatmen. Für eine kleine
Weile noch. Nur noch ein wenig.
Dann würde er einmal wieder nach
Ravinia gehen und dort sein niederträchtiges Werk verrichten. Er würde
weiterbauen an diesem Turm, dessen Gerüst er seit Jahren, ja seit Jahrzehnten
zu stützen versuchte â was er trotz der langen und erfolglosen Versuche noch
nicht aufgegeben hatte. Wozu auch? Gäbe er auf, würde sich sein ganzes Dasein
in Nichts auflösen. Nein, vor dem Nichts kämen unendliche Schmerzen, dessen war
er gewiss â Gott hin oder her.
Und so blickte er ein letztes Mal
hinab über die Stadt, in der die Raben grau waren und nicht sprachen â und
einem nicht die Augen auszuhacken trachteten.
Einen kurzen Moment noch.
Dann würde er gehen.
Müssen.
Die Dunkelheit hat ihre eigenen Gesetze.
Sie als düstere Antagonistin zum Licht zu betrachten,
wäre fehlgeleitet, denn ein einziges Licht in der Dunkelheit ist noch
meilenweit zu sehen. Was jedoch wäre ein winziger Tropfen Dunkelheit in einem
Meer aus Licht?
Die Dunkelheit im massiven Fels unter Ravinia jedoch
war wiederum ganz und gar eigen. Magisch, wie so vieles in dieser Welt. Verwunschen
und menschenverachtend wie eine Fee. Doch voller Wunder. Sie war bunt, die
Dunkelheit in Epicordia.
Zunächst hatten sie ein System aus alten Katakomben
durchwandert. Gänge und Gewölbe, zu groÃen Teilen verschüttet. Sie kündeten
davon, dass auch die düstergoldene Rabenstadt im Laufe der Zeit oft neu auf
ihrer eigenen Vergangenheit errichtet worden sein musste. Zu Anfang wirkte es
eher trostlos, doch je weiter sie kamen, desto mehr wandelten sich die
Katakomben hin zu einfachen Tunneln und Gängen im Fels. Und desto farbenfroher
wurde es um Lara herum. Die grellen Neonfarben lumineszierender Pilze wucherten
über die unebenen Wände der Höhlen und die flüsternden Steine uralter
Katakomben, die wie StraÃen und Gassen hin zum Herz unter der Stadt führten.
Bald schon begannen rot und gelb leuchtende
Glühwürmchen die Luft zu füllen, und seltsame lichtspendende Steine wuchsen an
den Höhlenwänden.
»Sind das dieselben
leuchtenden Steine, wie sie die Alchimisten in Ravinia besitzen?«, fragte Lara,
die für den Moment vergaÃ, wie unfreundlich sie hier unten willkommen geheiÃen
worden waren. Sie dachte bei der Frage an ihren Besuch mit Tom bei Keiko Ito,
deren Labors und Arbeitszimmer tief in den
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