Er war ein Mann Gottes
»Zimbeln« oder »Schellen« nennt.
Als »Akolythen« bereiten die Ministranten zusammen mit den »Zelebranten« und »Konzelebranten« den Altar und die heiligen Gaben zur Eucharistiefeier vor. Sie helfen dem Priester bei der rituellen Händewaschung, welche »Lavabo« genannt wird, und räumen nach der Kommunion die Altargeräte ab. Außerdem reichen sie dem Priester die liturgischen Geräte wie Weihrauchfass, Aspergill oder Bücher an. Und natürlich sammeln sie die Kollekte der Gemeinde ein. Dieses Einsammeln, erfuhren wir, heiße »Gabenprozession«.
Die ungewohnten Begriffe und die Aussicht, als eines der allerersten Mädchen der Gemeinde die liturgischen Geräte berühren und betätigen zu dürfen, die zuvor in unserer Kirche von keiner weiblichen Hand geführt worden waren, stimmten mich ehrfürchtig. Als habe er den siebten Sinn, schien Frederic meine und die Verunsicherung der anderen Mädchen zu spüren, so dass er seine Einführung mit dem Hinweis auf die lustigeren Dienstpflichten der Ministranten abschloss. So sollten auch wir Mädchen künftig zur Heiligen Drei Königszeit mit den Sternsingern von Tür zur Tür ziehen dürfen und in der Karwoche mit der Holzklapper durch die Gassen laufen, während die Glocken schwiegen, da sie dem Volksmund nach auf ihrer Wallfahrt nach Rom waren.
Da wir Mädchen innerhalb der Ministrantengruppe, die seit jeher einen festen Bestandteil unserer Kirchengemeinde bildete, neu waren, durften wir eine eigene Untergruppe bilden, die Frederic direkt unterstand.
Während die neuen und jüngeren Jungengruppen von älteren Ministranten, den Oberministranten, geleitet wurden und sich gemeinsam mit ihnen zu Gruppenstunden, Ausflügen, Exerzitien oder der Organisation von Kirchen- und anderen gemeinnützigen Festen trafen, wollte Frederic sich um uns persönlich kümmern.
»Das bedeutet nicht, dass ich mich um euch Buben nicht kümmere«, stellte er klar. »Aber um die Mädels kümmere ich mich jetzt erst einmal etwas mehr.«
Wir klatschten. Die Jungen schmollten. Frederic lachte. Mit ein paar Witzchen zog er uns alle aufs Neue in seinen Bann. Vom ersten Moment an gehörten wir ihm.
Kampf um Zugehörigkeit
Bis ich Frederic traf, hatte mein Leben nur einen Sinn gehabt: Möglichst wenig zu Hause zu sein. Und zwar nicht etwa, weil ich meine Eltern nicht liebte, sondern ganz im Gegenteil, weil ich sie über alle Maßen liebte, mich von ihnen jedoch ungeliebt wähnte und sie daher so wenig wie möglich mit meiner Anwesenheit belasten wollte.
So besuchte ich in der Schule die nachmittäglichen Arbeitsgruppen für Volkstanz, Flötenunterricht, die Singgruppe und den Chor. Nebenbei erhielt ich Ballettstunden, Gitarren- und Orgelunterricht sowie Einzelstunden bei einer Aquarellmalerin. Im Kinderkirchenchor war ich sowieso.
Obwohl ich durch alle diese Aktivitäten viele Gleichaltrige kennen lernte, gehörte ich leider nicht wirklich dazu. Zwar versuchte ich alles, diesen Bann zu durchbrechen und in meiner Schulklasse anerkannt zu werden, doch musste ich ständig um andere werben, um meine mühsam erkämpfte Stellung zu halten.
So versuchte ich etwa, mich mit dem Mädchen anzufreunden, das sich in der Klasse als Anführerin herauskristallisiert hatte. Mal duldete sie mich mehr, mal weniger in ihrem Dunstkreis der Macht. Nie wurde ich jedoch als festes Mitglied in ihre Clique aufgenommen. Wahrscheinlich gefiel es ihr, mich sozusagen in Erwartung zu halten, weil sie dadurch sicher sein durfte, dass ich mir ständig besondere Mühe um sie geben würde.
Passte ihr etwas nicht aii mir, hatte ich »Ihrer Majestät« nicht genügend hofiert oder mich gar einem Befehl zu widersetzen gewagt, hetzte sie mir die Jungen auf den Hals, die zu ihrer Clique gehörten. Die sollten mich dann nach dem Ballettunterricht abpassen und mir einen Denkzettel verpassen. Erwischten sie mich nicht, spielten sie während des ganzen Ballettunterrichts Klingelstreiche. Obwohl ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, wussten doch alle, dass die blöde Klingelei mir galt. Das war mir peinlich und lehrte mich Anpassung.
Als wir ins Gymnasium und allmählich in die Pubertät kamen, ordnete die Cliquen-Anführerin an, wer mit wem zu »gehen« habe. Natürlich wollte ich den mir zugeteilten Jungen nicht. Er war zwar nett, aber ein bisschen trottelig. Außerdem war der, der mir gefiel, der absolute Klassenschwarm. So ein Blonder, Hübscher, der damals schon vierzehn und somit älter und reifer war als ich.
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