Er
der Mitte entzwei. Er verlor sie zwischen den Kissen, sie wanderten, lagen morgens unter dem Bett oder im Waschbecken im Badezimmer. Die, die ihm nicht aus der Hand fielen, schluckte er, sie schenkten ihm drei Stunden. Nach fünf Packungen weigerte sich sein Arzt, ihm eine sechste zu verschreiben, und so kam Jensen auf die Regengeräusche. Er lud sie sich auf sein Handy und ging mit Kopfhörern zu Bett. Stundenlang hörte er sich Gewitter an, tropische, nordamerikanische, australische aus der Gegend um Darwin. Er lernte gute Gewitter von schlechten zu unterscheiden. Die guten bestanden aus vier Geräuschschichten: Tröpfeln, dahinter Plätschern, dann Rauschen und ganz hinten das weise Donnern eines alten, schon im Absterben begriffenen Gewitters. Und nun, auf dem Sofa, entschied Jensen sich für ein tropisches Gewitter, auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen horchte er dem hellen Ziepen eines Vogels vor Donnerhintergrund. Davon wurde er müde, seine Gedanken an Lea verselbständigten sich, ihrem Herrn entronnen, verwandelten sie sich in Traumfetzen.
Er schlug die Augen auf, eine Hand lag auf seinem Mund, die Finger auf seinen Lippen rochen nach Essig. Der Donner brach über Bergen entzwei, an der Bruchstelle rauschte der Regen. Behutsam nahm Lea einen der Kopfhörer aus seinem Ohr und steckte ihn sich in ihres, der Draht spannte sich zwischen ihnen. Das Handy rutschte in die Mulde zwischen ihren Körpern. Sie hörten sich das Gewitter an, Jensen mit angehaltenem Atem. Es war verboten zu sprechen. Ihr Bein lag an seinem, und über diese Berührung gelangte ihre Fieberhitze zu ihm, er spürte seinen Hals feucht werden, was wollte sie? Warum legte sie sich neben ihn? Seine Aufregung produzierte mehrere dieser dummen Fragen. Wenn einer sein Leben lang den Wunsch hat, nach Grönland zu reisen, und sich ihm dann unerwartet die Gelegenheit bietet, wird er erkennen, dass er seinen Traum nicht verlieren möchte. Jensen war noch nicht bereit, von seinem Leben ohne Annick Abschied zu nehmen, er hätte gerne noch ein paar Monate getrauert, man gewöhnte sich daran. Lea entfernte die Kopfhörer aus ihrem und seinem Ohr, sie hob das Handy am Draht hoch wie einen Fisch aus dem Teich, Jensen brannte der Schweiß in den Augen. Sie legte ihm ihre heißen Hände auf die Wangen, er antizipierte den Kuss, wodurch keine Aussicht mehr auf Romantik bestand. Jensen wurde kompliziert. Sein Körper bildete mehrere Verkrampfungen, der Penis spielte Schnecke ins Häuschen. In einer kurzen Aufwallung empörte Jensen sich über die Natur, die dem Mann eine Leistung abverlangte, damit er eine Selbstverständlichkeit genießen konnte. Es war, als müsste man sich vor dem Essen zuerst einen zweiten Mund wachsen lassen. Und während ihn noch die Gedanken hetzten, küsste sie ihn. Es war der Kuss einer fremden Frau. Es war nicht Annick, die ihn küsste. Es waren andere Lippen, und das betörte ihn, plötzlich war ihm alles auf wundervolle Weise einerlei. In Leas Küssen steckte eine Spur Herrschaft, sie küsste ihn, nicht er sie, er fühlte sich aller Verantwortung enthoben. Wie auf großen Seidenkissen lag er hingestreckt da, um alles zu empfangen, ohne eigene Anstrengung. Unten auf der Straße hupte ein Auto penetrant und konnte den Moment trotzdem nicht entzaubern.
Und so glitt Jensen dahin, mit ihren Haaren im Mund, ihren Brüsten in seinen Händen, es war eine Reise, und sie führte beide weit weg. Es gab Orte, an denen sie einander in die Augen schauten, andere, an denen sie die Augen vor Lust nicht offen halten konnten. An besonderen Orten wurden sie laut. Einmal, für die Dauer von wenigen Sekunden, bewegten sie sich in perfekter Harmonie, das Zusammenspiel ihrer Körper geriet in die Nähe der Kunst, vollendet wie ein präziser Tanz. Nach einer Weile entwickelte Jensen Vorlieben, besonders für ihre Hände, deren Haut an der Oberseite glatt und weich, an der Unterseite rauer war. Aber daran lag es nicht. Wenn er ihre Hände berührte, berührte er Lea, ihre Hände enthielten sie, es war ganz merkwürdig. Er mochte ihr Haar, es roch nach Tee, nach Haaren, nach Essig, wie so vieles an ihr, es war kräftig und seiden. Einmal, an einem dieser besonderen Orte, an die sie kamen, drehte er aus ihren Haaren einen Strick und zerrte daran und merkte, dass sie es mochte. Eine winzige Gewalttätigkeit, sie erstaunte ihn, es war sonst nicht seine Art. Plötzlich sagte sie leise: »Pause.« Sie roch zwischen den Brüsten nach Rosen und frischem
Weitere Kostenlose Bücher