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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Abend, an dem er sich mit Lea langweilte, fast war er froh um seine Eifersucht, der einzigen Würze in einer faden Suppe.
    Er zog sich auf die Toilette zurück, wurde unterwegs aber aufgehalten von Toni. Sie trug blaue Socken.
    »Weißt du, was das ist, Fußpilz?«, fragte sie. »Das kriegt man, wenn man dauernd Socken trägt. Die Haut bekommt nicht genug Luft. Das habe ich dann dir zu verdanken. Mama tut ja alles, was du willst. Aber kommt Zeit, kommt Rat. Dein Hund stinkt übrigens. Ich will ihn nicht. Wenn sie dich rausschmeißt, kannst du ihn wieder mitnehmen.«
    »Du bist nett«, sagte Jensen. Sie standen im Flur, in Tonis Gesicht leuchteten im Halbdunkel zwei große, lebendige Kreise.
    »Das sagst du nur so«, sagte sie.
    »Nein. Du bist nett. Und du bist klug. Und du hast recht. Der Hund stinkt.«
    »Na ja«, sagte Toni. »Sophia ist klüger als ich. Sie schreibt lauter Einsen. Wenn sie mal ’ne Zwei hat, heult sie auf der Toilette. So möchte ich nicht enden.«
    Toni ging um Jensen herum.
    »Du bist eigentlich auch nett«, sagte sie. »Und bei dir macht Mama nachts auch nicht so laute Geräusche. Bei Hossam war’s ganz schlimm.«
    Jensen schloss sich auf der Toilette ein. Auf der Ablage unter dem Spiegel lag ein Rasiergerätchen, für Achseln und Beine. Es war unwiderstehlich. Jensen streifte die Hose bis zu den Knien hinunter, befeuchtete das Gerätchen. Er hatte, seit er mit Lea schlief, einen zwanghaften Rasiertick entwickelt. Es hing mit seiner Ausdauer zusammen.
    »Wie machst du das?«, fragte sie. »Ich meine, du bist dreiundfünfzig!«
    »Wenn es dir zu lange dauert, sag’s einfach«, sagte er. »Es macht mir nichts aus, aufzuhören.«
    »Bist du verrückt!« Die Haut über ihrem Brustbein war gerötet von seinen Küssen, dem kratzigen Kinn. »Wie kann denn so was zu lange dauern!«
    Endlich eine Frau, die seine Reisen mitmachte. Annick war jeweils schon bei der ersten Station ausgestiegen. Bei den Frauen vor ihr hatte Jensen mal größere, mal geringere Reiselust erlebt. Aber so weit wie Lea war noch keine mitgekommen.
    »Du bist ein Phänomen«, sagte sie, und von diesem Moment an wickelte sich ihm die Angst um den Hals. Er war Lea nicht böse. Sie war nur einfach die Erste, die das Phänomen zu schätzen wusste. Aber wenn man sich beim Tippen am Computer auf den Daumen konzentrierte, der die Leertaste drückte, kam man aus dem Takt. Wenn einem jemand sagte, dass man die Leertaste phänomenal zu drücken vermochte, vertippte man sich bei jedem Wort. In Jensen nistete sich der magische Gedanke ein, dass die tägliche Rasur der Testikel und des Glieds ihn vor dem Versagen bewahrte und permanente Phänomenalität gewährleistete. Wenn er sich morgens unter der Dusche die Härchen rasierte, die über Nacht aus seinen Geschlechtsteilen gesprossen waren, lernte er einiges über den Ursprung der Kunst. Die Kunst, davon war Jensen überzeugt, entstammte der Magie. Und die Magie wiederum der Angst der Männer, nicht phänomenal zu sein.
    Die alternden steinzeitlichen Männer suchten den Schamanen auf. Wirf die Stäbchen! Denn durch eine günstige Anordnung der Stäbchen wurde Kraft in ihren Penis gepumpt. Die Stäbchen bildeten zuweilen Muster, die ästhetisch befriedigend waren. In den paläolithischen Höhlen bliesen die Männer Farbe auf den Fels, und nicht selten, um eine Vagina darzustellen. Sie zeichneten sie auch gerne mit dem in ein Wasser-Holzkohle-Gemisch getauchten Finger. Es war Beschwörung, aber es rührte auch an den Sinn für Schönheit. Sie zeichneten Auerochsen und Hirsche, Bären und Löwen, die Kraft floss den Malenden zu, die Frauen bekamen den Bären zu spüren. Und doch war es auch einfach nur schön, diese gemalten Tiere im Fackelschein zu betrachten.
    Jemand klopfte an die Badezimmertür.
    »He da drin! Ich muss Zähne putzen«, sagte Toni.
    »Gleich«, sagte Jensen.
    Er legte das Gerätchen wieder auf die Ablage. Er musste streng mit sich sein. Er hatte sich heute schon rasiert. Ein zweites Mal kam nicht in Frage. Zähne putzen bedeutete, dass Lea und er in einer Stunde im Bett lagen. Jensen spülte sich den Mund. Er kannte den Grund für seine Ausdauer. Es war nichts, das Lea gefallen hätte. Frauen, die bei einem Mann Ausdauer schätzten, waren zu gutgläubig. Eine dauerhafte Erektion hatte nichts mit dauerhafter Lust zu tun, im Gegenteil. Stehvermögen, dachte Jensen, war eine Mangelerscheinung. Ähnlich wie Eifersucht, der Kreis schloss sich.
    Eine Stunde später lagen sie auf

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