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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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wegen der Geschwüre im Mund. Windpocken waren für Erwachsene eine Strapaze, die er ihr von Herzen gönnte.
    »Das ist kein Entgegenkommen«, sagte er. »Du bist krank, dein Mann ist weg, du bittest mich um Hilfe. Und leider muss ich ablehnen.«
    »Das bist nicht mehr du«, sagte sie. Sie lag in Yonkers in einem Baldachinbett, darauf hätte Jensen gewettet. Der Möbeldesigner, mit dem sie ihn von Anbeginn an betrogen hatte, entwarf und produzierte exklusive Betten, und für eine so schöne Frau wie Annick hatte er bestimmt den Höhepunkt seines Sortiments aus dem Warenlager geholt. »Was ist los mit dir? Du lässt mich gerade sehr im Stich. Dafür muss es einen Grund geben. Sonst würdest du das nie tun. Wo bist du? In Brügge? Aber nicht im Haus, nicht wahr? Es klingt anders.«
    Ihr Gehör war makellos und erkannte alle Geräusche. Ob eine Kerze flackerte oder ruhig brannte, erkannte sie am Zischen des Dochts, und in Menschenstimmen entdeckte sie das Unausgesprochene. Sie erfolgreich zu belügen war ein Glücksfall.
    »Ich bin in Berlin«, sagte er. Mehr war nicht nötig, sie erfuhr den Rest aus seinem Tonfall.
    »Du hast eine Frau kennengelernt. Jetzt verstehe ich.«
    Die Leitung knackte. Der Atlantik zwischen ihnen war groß.
    »Weiß sie von Marleen?«, fragte Annick.
    »Natürlich.« Aber er dachte an den Tag im Park, als er Lea von Marleen erzählen wollte und sie sich seiner Vergangenheit verweigerte. Sie wusste nur, dass er ein Kind hatte, wie es hieß, interessierte sie nicht.
    »Bist du sicher?«
    »Natürlich!« Es kam ihm grotesk vor, dass er lügen musste. Lea kannte nicht einmal den Namen seiner Tochter! Er hätte das niemandem sagen können, zuletzt Annick, denn es war mehr als merkwürdig: es war verdächtig.
    »Hat sie selber Kinder?«
    »Ja.« Das Gespräch wurde ihm lästig. Die wichtige Botschaft war übermittelt: Eine andere Frau interessierte sich für ihn. Er saß nicht auf dem Trockenen. Er hoffte, dass Annick einen kleinen Stich im Herz spürte, ein großer war undenkbar. Der kleine Stich entsprach den kleinen Gefühlen für ihn, die sie sicherlich gehabt hatte, er war überzeugt. Etwas Kleines war da gewesen bei ihr und etwas Großes bei ihm, und jetzt, da er ihre Stimme hörte, spürte er die Fallhöhe wieder.
    Er drückte das Gespräch einfach weg.
    Sie dachte wohl, die Verbindung sei unterbrochen worden, und rief ihn erneut an.
    Er schaltete das Handy aus.
    Die Frau von der Hausverwaltung trug einen String-Tanga. Er sah es, als sie sich bückte, um ihm zu zeigen, wo der Zähler für Strom und Gas sich befand.
    »Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Jensen und machte auf dem Absatz kehrt. Im Treppenhaus roch es nach Malerfarbe, auf dem Innenhof rauchten zwei Mädchen Zigaretten, sie konnten vor Schminke kaum aufrecht stehen.
    Auf der Straße wehten ihm die Autos Wind ins Gesicht, es war keine Umgebung für ein Kind, das noch auf jede Taube losrannte. Es war kalt, das Pflaster eisglatt, beim Gehen verlor man die Würde. Auf eine Wohnung hatte er keine Lust mehr. Sein Hotelzimmer reichte, ihm gefielen die Armaturen im Badezimmer, und auf der Matratze konnte man farbig träumen. Es wäre falsch gewesen, das Vorläufige über Bord zu werfen, bevor das Schiff seinen Hafen kannte. Bevor er Marleens Bettchen in eine Wohnung in Berlin stellte, musste geklärt werden, weshalb Lea nicht über die Vergangenheit sprechen wollte und nicht einmal wusste, wie sein Kind hieß.

[Menü]
    15
    J ENSEN FAND RUNDE TISCHE aufdringlich. Wir sind eine Familie! Wir sind Freunde! Setz dich, Fremder, und werde Teil der Gemeinschaft! Runde Tische waren missionarisch.
    »Was ist?«, fragte Lea. »Schlechte Laune?«
    »Nein«, sagte Jensen. Es war mehr als das. Er mühte sich ein Lächeln ab.
    »Ist das ein Lächeln? Oder zeigst du mir die Zähne? Ich kann’s nicht unterscheiden.« Sie steckte sich einen Sushi-Happen in den Mund. Es war nicht das richtige Sushi.
    »Das schmeckt mir nicht«, sagte Toni. »Darf ich’s dem Hund geben?«
    »Zum neunten Mal: Nein. Du darfst den Hund nicht am Tisch füttern«, sagte Lea. »Macht dir das keine Sorgen, dass man dir etwas so oft sagen muss, bis du es begreifst?«
    »Aber schwarze Hunde bringen Unglück. Wenn ich ihn füttere, trifft das Unglück vielleicht jemand anderen.«
    »Es trifft mich ja schon«, sagte Jensen. Er hatte das Sushi beim falschen Japaner gekauft.
    Lychener Straße, hatte Lea gesagt. Aber er hatte sie nicht gefunden und das Sushi eben in der Straße

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