Er
Tod freundlich, und in Abwandlung dieses Gefühls, von dem Jensen wusste, dass es ihn sein Leben lang begleiten würde, entwickelte er ein Barometer der Liebe. Die Skala war einfach. Es ging nur um die Frage, von wem man, wenn es hätte sein müssen, den Tod am liebsten empfangen hätte. Die Tötungsgründe spielten bei der Überlegung keine Rolle, es war eine rein hypothetische Frage, die aber zu erstaunlich klaren Erkenntnissen darüber führte, wie man zu Menschen stand, die man liebte. Rückblickend erkannte Jensen, dass er sich von Annick nicht gerne hätte töten lassen, auch nicht in der gnädigen Zeit, als er von ihrem Verrat noch nichts wusste. Er hätte das Gefühl gehabt, dass sie sich nach seinem Tod umdreht und ihn im Weggehen vergisst. Vielleicht tat er ihr damit unrecht, aber es ging bei diesem Gedankenspiel nicht um Wahrheit, das war das Bestechende daran. Die Frage in ihrer Krassheit zwang einem ein elementares, rein gefühlsmäßiges Ja oder Nein ab. Und bei Annick lautete die Antwort eben Nein.
Hingegen in Leas Armen zu sterben, den Tod aus ihrer Hand zu empfangen, ein letzter Beweis der Nähe und Vertrautheit, es schien ihm fast wünschenswert. Einen familiären Tod unter dem weichen Tuch der Geborgenheit, die Sicherheit, nicht vergessen zu werden: das konnte er sich bei Lea vorstellen.
Aber natürlich nicht unter diesen ungeklärten Umständen. Nicht, solange die Gefahr bestand, dass es zwei Männer gab, die sich gerne von ihr hätten töten lassen.
Sie tötet dich, und dann dreht sie sich um und weint in den Armen des anderen um dich.
Der Mond ruhte sich auf dem Schornstein des gegenüberliegenden Hauses aus. Jensen setzte das Glas an die Lippen, ein Weinrestchen benetzte sie. Er wollte das Glas in der Küche neu füllen und stolperte über den Hund, der offenbar die ganze Zeit hinter ihm auf Neuigkeiten gewartet hatte. Im Schreck glitt ihm das Glas aus der Hand, es zerbrach mit einem hysterischen Klirren auf dem Sofatisch, der Hund bellte ein einziges Mal.
Jensen atmete nur so viel Luft ein, wie unbedingt notwendig war. Er stand still und horchte.
Das Aquarium gluckste.
Nach einer Weile entspannte er sich. Niemand war erwacht. Lea und Toni schliefen tief. Er sammelte die Scherben zusammen, gründlich, es war ja eine Wohnung der Barfüßigen. In der Küche wickelte er die Scherben in Zeitungspapier und steckte sie in den Müll. Der Hund versteckte sich im Vorratskämmerchen. Aus der Flasche trank Jensen Wein, und dann redete er sich seine Bedenken klein. Hatte er nicht ein Recht darauf, zu erfahren, ob die Frau, in die er sich verliebt hatte, ein Schattenleben führte? Jemanden zu lieben war ein Wagnis, die Muschel öffnete ihre Schale, die Katze legte sich auf den Rücken, man wollte dabei ungeschoren davonkommen. Man liebte und wurde verletzlich, schon eine Stecknadel riss tiefe Wunden, man stülpte das Innerste nach außen unter der Bedingung, dass der andere ebenso verletzlich war wie man selbst. Schmerz wurde mit Schmerz vergolten, das war die Warnung, beide mussten sich vor den Konsequenzen des Verrats im selben Maß fürchten. Andernfalls war diese ungeheuerliche Entblößung des Herzens nicht zu verantworten. Einseitigkeit war lebensgefährlich, hier ging es um ein exaktes Gleichmaß der Schwäche. Und Liebe war nichts anderes als wunderbare, köstliche, schreckliche Schwäche. Man wurde erpressbar, verführbar, war leicht zu täuschen, hielt Augen für das Zentrum des Kosmos, und Worte kamen Organen gleich, ohne die man nicht leben konnte. Übertreibung war das tägliche Brot, Enttäuschung die Suppe, in die man das Brot tunkte. In etwas derart Verrücktes durfte man sich nicht einseitig hineinbegeben. Nur wenn beide verrückt waren, verlor man nicht den Verstand. Es war nicht sein Recht, es war geradezu seine Pflicht sich selbst gegenüber, nach den Zeichnungen zu suchen. Auf diesen Zeichnungen lag das größte Gewicht, sie waren, zusammen mit der Inschrift auf dem Badezimmerspiegel, das konkreteste Indiz für die Anwesenheit eines anderen.
Wenn du wüsstest, was sie gezeichnet hat, würdest du verstehen, warum ich froh bin, dass du nicht nur wegen Lea nach Berlin ziehst.
Franks Worte in Venedig.
DU BIST DIE FRAU MEINES LEBENS
Leas Behauptung, Toni habe das geschrieben, war nach wie vor unbewiesen, denn Lea hatte Toni nie darauf angesprochen, und Jensen hatte sich nicht getraut, es selbst zu tun.
Er trank einen letzten Schluck aus der Flasche.
Hannes Jensen, ehemaliger
Weitere Kostenlose Bücher