Er
Inspecteur der flämischen Polizei. Barfuß und im Pyjama ging er dienstlich vor. Es gab zwei Arten der Suche nach verborgenen Gegenständen. Wenn die Zeit drängte und die Umstände es erlaubten, kippte man den Inhalt von Schubladen auf den Boden, man räumte Schränke leer ohne Rücksicht auf Scherben, rollte Teppiche zusammen und schlitzte Matratzen auf. Wenn es aber in Stille geschehen musste, versetzte man sich zunächst in den Verstecker.
Das Mondlicht fiel schräg ins Wohnzimmer, Jensen stand mit den Füßen darin und versetzte sich in Leas Lage. Sie zeichnete, wahrscheinlich nachts, wenn Toni schlief. Niemand sollte die Zeichnungen zu Gesicht bekommen. Lea versteckte sie also an einem Ort, der für sie selbst leicht zugänglich war. Die größte Gefahr der Entdeckung ging von Toni aus. Lea hatte also einen Ort gewählt, der für Toni vollkommen uninteressant war. Außerdem musste eine zufällige Entdeckung unwahrscheinlich sein.
Jensen betrachtete Leas Schreibtisch, die Bücherstapel, die Fotos, die aufgerissenen Briefumschläge. Ihm fiel inmitten der Unordnung eine Lichtung auf. Hier lagen nur ein Kugelschreiber, zwei Filzstifte, ein Radiergummi.
Wo zeichnete sie?
Jensen strich die Küche von der Liste, aus einem Gefühl heraus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie gerne zwischen unabgewaschenen Tellern und Brotkrumen zeichnete.
Auf dem Sofa?
Er stellte es sich unbequem vor, wenn es großformatige Zeichnungen waren. Und Lea war nicht der Typ fürs Kleinformatige.
Im Bett?
Sehr unwahrscheinlich. Das Bett war der einzige Ort, den sie peinlich sauber hielt. Sie tolerierte dort nicht die geringste Unordnung und mochte es nicht, wenn seine Socken im Bett lagen. Eines Morgens aß er, als sie duschte, im Bett ein Brötchen, das war unverzeihlich. Sie hielt ihm einen Vortrag über Privatsphäre. Er musste vor ihren Augen jede Krume aufpicken.
Sie zeichnete also am Schreibtisch, auf dieser Lichtung.
Für Toni uninteressante Orte in unmittelbarer Nähe: die Fotobände. Hinter dem Schreibtisch im Bücherregal, in Stapeln vor dem Regal: Unmengen von Fotobänden.
»Fotos sind ätzend«, sagte Toni. »Wenn ich mir eins angucke, kann ich’s nicht mehr vergessen. Das ist was für Leute, die kein fotogenes Gedächtnis haben. Ich hab eins, ich brauch keine Fotos, okay?«
»Du hast ein fotografisches Gedächtnis«, sagte Lea.
»Wenn ich die Augen schließe«, sagte Toni, »sehe ich euch ganz deutlich vor mir, wie ihr rumknutscht. Das ist widerlich.«
»Tut mir leid«, sagte Jensen.
Er strich mit den Fingern über die Einbände.
»Schönste erste Sätze«, dieses Buch hatte sich zwischen die Fotobände verirrt.
»Auf der Suche nach Schrödingers Katze«, hier stutzte Jensen. Sie besaß also ein Buch über Quantenphysik. Mehrere sogar, wie er nun feststellte. Populärwissenschaftliche Bücher, die er alle kannte. Zwei davon waren Neuerscheinungen. Er war ganz gerührt, gleichzeitig enttäuscht darüber, dass er es auf diesem Weg erfuhr. Sie hatte ihr Interesse für Physik nie erwähnt, obwohl es doch zweifellos kein laues oder vorübergehendes war, dazu besaß sie zu viele und zu neue Bücher darüber. Sie lag da drüben in ihrem Bett, schlief und wusste nicht, dass er die Liebe zur Physik mit ihr teilte. Was für eine Verschwendung, und nur, weil sie ihm so wenig über sich erzählte. Weil sie ihm Einblick in ihre Vergangenheit nur tröpfchenweise gewährte, als handle es sich um ein sehr wirksames Gift, das den anderen nur in äußerster Verdünnung nicht umbrachte. Und offenbar verschonte sie ihn auch mit ihren gegenwärtigen Interessen. Von zehn Fragen über Lea Panneck hätte Jensen wahrscheinlich nur knapp die Hälfte beantworten können.
Sie hatte ein Faible für erste Sätze.
Sie fuhr nicht U-Bahn, weil sie den Geruch nicht ertrug.
Sie kochte mit mehr Leidenschaft als Können.
Sie sagte: »Merkst du, dass du mich dauernd unterbrichst?«
»Dauernd würde ich es nicht nennen«, sagte Jensen.
»Aber jetzt gerade unterbrichst du mich wieder. Darf ich bitte ausreden?«
»Natürlich.«
»Ich möchte nicht dauernd darum bitten müssen, verstehst du?«
Sie war schwierig, sie war wundervoll, sie erkannte manchmal den Unterschied zwischen Jensen und Toni nicht und erzog beide. Sie verheimlichte ihm etwas.
Vielleicht hätte er alle zehn Fragen beantworten können, aber das war immer noch wenig.
Er nannte sie Sätzchen, wegen ihrer Vorliebe für erste Sätze. Sie mochte es wegen dem Gleichlaut mit
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