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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Schätzchen, aber sie taufte ihn nicht, ihr fiel kein Kosename für ihn ein, sie beließ es bei Hannes.
    Selten zuvor hatte er eine Frau so gerne geküsst.
    »Deine Küsse sind wunderbar«, sagte sie.
    »Deine auch.«
    »Nein, deine.«
    Sie küssten einander voller Zärtlichkeit und Neugier, sie warteten, sie forderten nichts, ein Kuss dauerte lange. Ihre Lippen lösten sich sehr vorsichtig voneinander, nur um einen neuen Kuss einzuleiten. Sie atmeten im Gleichtakt, nur die Spitzen der Lippen berührten sich, manchmal befeuchteten sie die Lippen, das war oft lange das Einzige, das die Zunge tat.
    Daran dachte Jensen, als er auf dem Bürostuhl an ihrem Schreibtisch saß. Hier saß sie, wenn sie zeichnete.
    Sie interessierte sich für Physik, und nur dank seiner Eifersucht hatte er das erfahren.
    Jensen streckte den Arm aus. Fast konnte er einen der Stapel mit Fotobänden berühren.
    Sie zeichnete, dann steckte sie die Zeichnungen in einen der Bände, die sie vom Schreibtisch aus am leichtesten erreichen konnte.
    Der Bürostuhl knackte, als Jensen auf den Rädchen näher zum Stapel rollte. Er schlug den obersten Fotoband auf, blätterte ihn durch, erwartete keinen Fund. So leicht machte Lea es sich nicht. Wahrscheinlich war es der dritte oder vierte Band im Stapel.
    »Die Wüsten der Erde«.
    Jensen legte das Buch auf den Tisch. In dem Moment, als er es aufklappte, sah er Toni in der Tür stehen, in einem blauen Schlafanzug mit zu langen Ärmeln.
    »Suchst du die Zeichnungen?«, flüsterte sie.

[Menü]
    16
    E R SPÜRTE DAS GEWICHT in seinen Händen, man konnte ein Leben nicht festhalten, es war zu schwer, und die Tölpel kreischten.
    LOSLASSEN!
    Die Menschen waren die Einzigen, die erkannten, dass es zu viele Tölpel gab, und dafür hassten die Tölpel sie. Sie hassten sie für die zertretenen Nester, die geköpften Küken, die gestörte Ruhe. Tölpel wollten ihre Ruhe, um Sandaale zu fressen und mit den Schwanzfedern zu wackeln, wenn das Männchen seinen Dorn reinsteckte, um neue Gugas zu zeugen, die dann von den Menschen geköpft wurden, als wären sie Unkraut. Der Himmel wäre sonst schwarz gewesen von Tölpeln, jemand musste hier jäten.
    LOSLASSEN!
    Einer weniger, dachten die Tölpel.
    »Verschwindet!«, schrie Angus, und sie umflatterten ihn von allen Seiten und drückten ihm ihre Flügel auf Mund und Nase, damit er die Kraft verlor und das Gewicht sausen ließ.
    »Angus!«
    Der Himmel riss auf und Dunkelheit brach herein.
    »Angus!«
    Er schlug die Augen auf. Den Schatten über ihm kannte er. Es war kein Tölpel.
    Alles in Ordnung.
    Nein, nichts war in Ordnung.
    »Nichts«, sagte Angus. Er setzte sich im Bett auf, er hatte versagt.
    »Könntest du bitte mal den Mund halten?«, sagte Sean. »Ich will schlafen.«
    »Was denn?« Angus rann Schweiß in die Augen. »Was hab ich denn gesagt?«
    Er war eingeschlafen, in seinen Kleidern, der Schlaf hatte ihm den Kopf auf die Brust gedrückt, dann die Beine weggezogen, bis er langgestreckt auf dem Bett lag und redete. Fünf Tassen Kaffee zum Abendessen waren für die Katz gewesen.
    »Nimmt mich wunder, wie du so schlafen willst«, hatte Sean gesagt. »Bei so viel Kaffee auf die Nacht.«
    Nicht mal zwei Nächte stand er durch, seine Mutter hatte recht.
    »Wenn ich gewusst hätte, was dabei rauskommt«, sagte sie, »hätte ich deinen Vater nicht rangelassen.«
    Vier Stunden Schlaf genügten ihm sonst, jeden Tag stand er um drei Uhr früh auf. Manchmal musste er die Schafe wachtreten, die faulen Biester. Wenn sie aus ihren Schafsträumen hochschreckten, empfand er etwas für sie, ihre Verwirrung war ihm vertraut. Manchmal nahm er eins in den Arm und strich ihm über die Wolle. Alison kam erst um sieben hoch, und bis zehn sah sie aus, als würde sie immer noch schlafen.
    »Kein Wunder, dass ich nicht schwanger werde«, sagte sie. »Wenn ein Mann nicht genug schläft, verdirbt sein Saft.«
    Solche Sätze musste man schlucken wie trockenes Brot, aber darum ging es jetzt nicht.
    »Also was?«, fragte Angus. »Was hab ich gesagt?« Er hatte fest damit gerechnet, dass einer, der nur vier Stunden Schlaf braucht, zwei, vielleicht sogar drei Nächte wach bleiben kann. Aber er konnte mit nichts, was ihn selbst betraf, fest rechnen. Er konnte sich nicht trauen. Er war sich selbst ein Stein im Schuh. Wann kapierst du das endlich?, dachte er. »Ich hab doch bestimmt was gesagt. Nimmt mich nur wunder.«
    Sean war im Licht der Nachttischlampe käsebleich, saß auf dem Bett und drückte

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