Er
sich die Hand auf den Magen.
Wenn er etwas weiß, dachte Angus, wird er jetzt lügen. Aus Angst.
Er beobachtete Sean sehr genau. Manchmal sah man einem Menschen an, was in ihm vorging. Aber dazu musste man seine Augen sehen, und die von Sean waren nur Schlitze.
»Weiß nicht«, sagte Sean. »Du hast geredet. Ich hab’s nicht verstanden. Im Schlaf spricht man nicht so deutlich.« Er verzog das Gesicht und rülpste. »Ich glaube, ich hab mir was eingefangen«, sagte er.
»Du hast also nichts verstanden?«
»Nein. Aber man kann trotzdem nicht schlafen. Es ist wie Schnarchen. Da gibt’s auch nichts zu verstehen, und trotzdem kann der andere nicht schlafen. Spürst du nichts? Du hattest doch auch das Schnitzel. Das kommt mir dauernd hoch.«
»Ich wollte da ja nicht hin. Weiße Tischtücher!« Angus tippte sich an die Stirn. »Wenn ich weiße Tischtücher sehe, weiß ich, dass das Essen schlecht ist. Sonst könnten sie sich diesen Firlefanz sparen. Aber da gibt’s was, das ich nicht verstehe. Du sagst, dass ich im Schlaf gesprochen habe. Aber dann wieder sagst du, dass du nichts verstanden hast. Wie geht das zusammen? Wenn einer redet, versteht der andere, was er redet. Sonst ist es nicht Reden, sondern Brabbeln.«
So nannte Alison es.
Angus hatte angenommen, dass sie einfach zu dumm war, um zu verstehen, was er im Schlaf redete. Aber wenn auch Sean, der jeden Tag ein Buch las, es nicht verstand, war es tatsächlich Brabbeln, und dann gab es keinen Grund, nicht zu schlafen. Er brabbelte, und niemand verstand es. Nur er selbst wusste, was er brabbelte. Er war der Einzige, der seine Schlafsprache verstand.
Sean starrte einen Punkt neben Angus an.
»Ist es Brabbeln?«, fragte Angus. Er wollte die Antwort unter Dach und Fach haben, bevor Sean zur Toilette rannte, denn genau danach sah es aus.
»Ja«, sagte Sean, und mit jedem Nicken wurde er grüner im Gesicht. »Brabbeln. Hast du die Pommes frites gegessen?«
»Die was?«
»Die Chips. Hast du die auch gegessen? Vielleicht sind es die.«
»Die hab ich nicht gegessen. Das waren keine Chips. Ich weiß schon, das sind diese französischen Dinger, aber die sind mir zu dünn.«
Das stimmte nicht. Sie waren ihm nicht zu dünn, sie waren ihm egal. Er hatte auch welche davon gegessen, das war jetzt nicht der Punkt. Der Punkt war, dass er Lungen hatte, die er endlich wieder mal mit Luft füllen konnte, und auch sein Herz schlug nicht mehr, als stecke es in einer Nussschale, sondern frei und laut vor Erleichterung. Ihm blieb eine dritte Nacht ohne Schlaf erspart, denn er brabbelte nur. Er hätte am Sonntagmorgen auf dem Kirchplatz von Port Nis schlafen und brabbeln können, und niemand hätte ein Wort verstanden. Alison konnte ihren Hintern gleich mal wieder auf ihre Seite des Doppelbetts rüberschieben, denn wenn er aus Berlin zurückkam, schlief er keine Nacht mehr im Gästezimmer, in dem Alisons Mutter vor drei Jahren gestorben war, ihre Seele knackte noch im Bettgestell.
Sean stand auf, die Pyjamahose rutschte ihm ein Stück runter, er zog sie mit der einen Hand hoch, die andere drückte er sich auf den Mund, er konnte jetzt nicht schnell genug die Toilette sehen.
Die Geräusche, die Angus zu hören bekam, entspannten ihn. Es war gemütlich, gesund zu sein, während ein anderer reiherte. Es war wunderbar, schlafen zu können, ohne dass jemand verstand, was man sagte, und so zog Angus sich aus, und er legte sich zum ersten Mal seit langer Zeit unter die Decke und faltete darüber die Hände. So lagen die Toten im Sarg. Auf dem Rücken, mit gefalteten Händen, den Kopf auf einem weißen Kissen.
Und es gab noch eine gute Nachricht: Er war kein Mörder.
Ein Mörder schlief tief und fest, er brabbelte andere nicht wach, denn er hatte kein Gewissen. Angus hatte eins, und das konnte den Mund nicht halten, aber andererseits auch nicht deutlich reden, und in der Kombination war das sehr beruhigend.
Ich bin kein schlechter Mensch, dachte er.
Sean würgte dem Teufel ein Ohr ab.
Angus schloss die Augen und genoss den kurzen Moment der Erlösung.
Kein schlechter Mensch, aber natürlich stimmte etwas nicht mehr mit ihm, seit jenem Tag auf Sula Sgeir. Sean da drüben auf der Toilette war krank, und das bin ich auch, dachte Angus, es passte wirklich gut zusammen. Das, was er auf Sula Sgeir getan hatte, hatte ihn krank gemacht. So konnte man es nämlich sehen, und nun war es, wie wenn man zwischen zwei Zaunpfählen einen Draht spannte. Dadurch bekamen die Pfähle nämlich
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