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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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es nicht mehr. Wer geschmatzt hatte, behielt den Bissen im Mund, ohne zu kauen. Der Regen prasselte auf die Plane.
    »Weil es hier stinkt wie in der Hölle«, sagte Lea. Sie zog etwas aus der Tasche, ein Fläschchen. »Streicht es euch unter die Nase. Das hilft.«
    »Ich will so was hier nicht sehen«, sagte Alasdair.
    »Parfüm?«, fragte Sean.
    Lea nickte.
    »Aber ihr seid ja echte Männer«, sagte sie und steckte das Fläschchen wieder ein.
    »Es ist spät«, sagte Alasdair. Spät war das Wort für Bibel. Er schlug sie an einer vorbereiteten Stelle auf.
    »Ich lese aus den Psalmen«, sagte er. Angus nahm eine fromme Haltung an. Dankbarkeit konnte nicht schaden. Lea hustete, der Rauch schlug ihr auf die Lunge. Als sie still war, arbeitete Alasdair sich Silbe für Silbe durch den Psalm. Die langen Wörter waren nicht seine Stärke. In der Mitte ruhte er sich jeweils aus.
    »Errette mich, mein Gott, von meinen Feinden. Und schütze mich vor denen, die sich wider mich setzen. Errette mich vor den Übel. Übel. Tätern. Und hilf mir von den Blut. Gierigen.«
    Wenn es einen Gott gibt, dachte Angus, dann bin ich es. Der Gedanke kam ihm fremd vor. Wahrscheinlich hatte er das mal im Fernsehen gehört. Aber der Satz passte zu seinem Gefühl, dass er sich heute alles erlauben durfte. Heute klappte alles. Heute schmeckte ihm sogar das Essen.
    Alasdair las fünf weitere Psalmen, danach hatte der Schlaf leichtes Spiel.
    Sie rollten sich auf den Matten zusammen.
    »Gute Nacht«, sagte Sean.
    Niemand antwortete.
    Draußen in den Nestern warteten die Gugas auf den Tod.
    Angus spürte an seiner Wade eine Berührung. Leas Hand oder ihr Arm, vielleicht auch ihr Gummistiefel, etwas von ihr jedenfalls, und diese Berührung erzeugte einen Strom von Wärme und Geborgenheit. Er biss sich in die Hand, um nicht zu stöhnen vor Glück.
    Er wartete, bis Sean und Alasdair schnarchten. Als er die Hand in seine Brusttasche steckte, pochte sein Herz ihm die Zeichnung förmlich in die Finger.
    Leise richtete er sich auf. Die Dunkelheit belauerte das Torffeuer, nur mit Mühe hielt die Glut sie noch in Schach. Lea lag zur Hälfte im Dunkeln. Er beugte sich über sie.
    »Schläfst du?«, flüsterte er.
    Sie hob den Kopf, ihr Haar schien zu rascheln.
    »Nein«, flüsterte sie.
    Er entfaltete die Zeichnung.
    »Du kannst es jetzt nicht sehen«, flüsterte er. »Aber das ist die Zeichnung. Die du von mir gemacht hast.«
    »Ja«, flüsterte sie. »Ich erinnere mich.«
    Jetzt war wieder er dran.
    Er hätte etwas sagen müssen. Er hatte es doch geübt, all die Nächte vor dem Einschlafen. Aber in seinem Kopf ging der Gerichtsvollzieher spazieren, nachdem alles versteigert worden war, es war kein Stäubchen mehr drin.
    »Jedenfalls ist das die Zeichnung«, sagte er.
    »Schön«, flüsterte Lea.
    »Hier ist sie.« Er legte die Zeichnung neben sie. Lea warf nicht mal einen Blick drauf.
    »Weißt du, warum du dich heute so gut fühlst?«, flüsterte sie.
    »Was?«
    »Ob du weißt, warum du heute glücklich bist.«
    »Ja. Ich fühle mich gut«, sagte er.
    »Weil du tot bist«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

[Menü]
    22
    »I CH WILL DAS NICHT sehen!«, sagte Toni.
    Lea drückte ihr die Augen zu.
    »Geh ins Haus. Geh nach oben«, sagte sie. »Schau nicht aus dem Fenster. Geh in dein Zimmer.«
    »Ich geh in mein Zimmer«, sagte Toni. »Ich geh sofort von hier weg.«
    »Ja. Geh nach oben. Nimm den Hund mit, hörst du?«
    »Ist der Mann tot?«, fragte Toni. »Der ist doch bestimmt tot. Ich will nicht, dass seine Seele hier rumfliegt.«
    Jensen näherte sich der Stelle. Die Luft roch nach verbranntem Gummi. Ein Mensch lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Dach eines blauen Wagens und vergoss sein Blut über die Fensterscheiben. Ein Mann, der sich schuldig fühlte, trat mit dem Fuß gegen den Wagen, auf dem der Blutende lag, und er sagte: »Warum passiert immer mir die Scheiße? Warum immer mir! Ich muss um halb elf in Marienberg sein. Ich hab keine Zeit für diese Scheiße hier!« Der Mann, ein Angestellter der Firma Elektro Kosnitz, er trug das Emblem auf seinem Arbeitskittel, zwei gekreuzte Blitze, wollte in den vorn zerbeulten Wagen einsteigen und wegfahren. Zwei andere Männer hielten ihn zurück.
    »Bleib mal schön hier, Junge!«
    »Lasst mich los! Arschlöcher!«
    Den zwei Männern gefiel es, einem Verzweifelten den Arm auf den Rücken zu drehen.
    Jensen berührte den Verunfallten am Hals. Er spürte keinen Puls.
    »Ich hab den Kerl nicht gesehen! Dieser blöde

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