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Er

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Titel: Er Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Idiot!«, sagte der Fahrer. »Rennt mir einfach vor die Räder! Was soll ich denn jetzt tun?« Er weinte, trat mit den Füßen gegen die Schienbeine jener, die ihn festhielten. Er war noch sehr jung, er verlor seine Brille. Vor zwei Minuten noch hatte er durch sie eine Straße gesehen, auf der nichts Unübliches geschah. Und nun zerbrach sie unter den Tritten von Unbekannten, die ihn gegen seinen Wagen drückten.
    »Ist er tot?«, fragte Lea. Sie streckte die Hand aus. Jensen ergriff sie. Die Hand war eiskalt, und durch ihr Gesicht zogen sich Furchen der Trauer.
    »Kennst du ihn?«, fragte Jensen.
    Sie blickte ihn an, es war wie eine Berührung.
    »Craig?«, sagte jemand.
    Lea wandte den Blick von Jensen ab und richtete ihn auf jemanden hinter ihm.
    Jensen drehte sich um.
    Menschen sahen in äußerstem Erstaunen oft dümmlich aus. So war es bei diesem Mann.
    »Craig?«, sagte der Mann. Er blickte zwischen Jensen und dem Verunfallten hin und her, aus dieser Bewegung entstand ein Kopfschütteln.
    Der Mann sprach englisch, er sagte: »Craig? O nein. Das hättest du nicht tun dürfen!«

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    23
    A NGUS TRÄUMTE VON EINEM TÖLPEL. Er breitete die Flügel aus, aber nicht zum Spaß. Der Tölpel wollte, dass Angus die einzelnen Handschwingen und die Armschwingen sah. Hätte auch mit einem Kamm funktioniert. Ein Kamm war eine Sekunde, begriff Angus im Traum, bestand aber aus vielen Zacken. Eine Sekunde war vielfältig. Sie konnte sehr lange dauern, wenn man sie Zacken für Zacken oder Handschwinge für Handschwinge erlebte.
    »Wenn du eine Sekunde in lauter kleine Schnittchen aufteilst«, sagte der Tölpel, »hast du mehr davon. Dann dauert die Sekunde ein Jahr oder noch länger. Kommt drauf an, wie dünn die Schnittchen sind.«
    Das leuchtete Angus ein. Wenn man eine Wurst in dünne Scheibchen schnitt und die Scheibchen einzeln aß, kam einem die Wurst größer vor.
    »Als sie im Krieg die Kartoffeln rationierten«, sagte seine Großmutter, »wurde man von einer schon satt.«
    Er erwachte mit dem Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben. Andererseits hatte er hier noch was zu erledigen. Und jetzt wusste er ja, wie man beides unter einen Hut brachte.
    Schnittchen, dachte er.
    Ein Mann in einem weißen Kittel zog ihm das Augenlid nach unten und leuchtete mit einer Taschenlampe rein.
    »Kröte ainketretten umelf hurzich«, sagte der Mann. Das Wort Kröte verstand Angus, alles andere war Deutsch.
    Angus wunderte sich über nichts. Die Welt brauchte einfach etwas länger als früher, um sich zusammenzusetzen. Früher schlug man morgens die Augen auf, und zack! war die Welt wieder genauso da, wie man sie gestern beim Einschlafen verlassen hatte.
    Der Mann verschwand.
    Na also, dachte Angus. Geduld bringt Rosen. Und jetzt war auch die Steinhütte wieder da. Das Torffeuer, die Schlafmatten, Alasdairs Bibel, alle Dinge lagen an ihrem Platz. Die Welt hatte die Gelenke knacken lassen, jetzt war alles wieder eingerenkt und funktionierte wie geölt.
    Draußen versammelte Alasdair die Männer um sich, er überragte sie alle, der Regen traf als Erstes seinen Kopf. Und Regen gab es genug, er tropfte vom Kapuzenrand, verfing sich in den Bärten. In den Felsrinnen stank das mit Guano versetzte Pfützenwasser. Die Wolken zerflossen, das Meer schäumte, die Klippen streckten ihre Zacken raus und waren glitschig, keiner wollte jetzt zu den Nestern raussteigen.
    »Ist einfach zu gefährlich«, sagte Calum. »Was schadet’s, wenn wir einen Tag warten?«
    »Wer hat sonst noch Angst?«, fragte Alasdair.
    Die Männer wurden still, der Regen prasselte auf die Schultern, am Himmel das Flappen der Tölpelflügel.
    Leas Kamera klickte.
    »Hat keinen Sinn«, sagte Angus. »Wir gehen sowieso.« Er wusste das, er hatte die Zeit in der Tasche, und sie war rund wie eine Orange, und sie war in sich abgeschlossen und zu einem Ende gekommen. Es kam nichts mehr hinzu, weder zu dem, was bereits geschehen war, noch zu dem, was geschehen würde.
    »Calum hat recht«, sagte Craig. »Ein Tag mehr oder weniger, darauf kommt’s nicht an. Aber jetzt da rausklettern, wenn die Felsen so nass sind, wozu dieses Risiko eingehen? Wenn hier einer abstürzt, freut sich doch nur Kate Branson.«
    Einige der Männer husteten, vielleicht war’s Zustimmung, vielleicht nur ein rauer Hals.
    »Soll Liam hier denken, dass wir Feiglinge sind?«, sagte Alasdair.
    »Lass mal«, sagte Liam. »Wenn’s zu gefährlich ist … wegen mir muss keiner seinen Kopf riskieren.«
    »Soll er das

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