Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
Dadurch versuchte er, die verborgene Sprache von Murtaghs Körper zu lesen.
Er fand einige Dinge heraus. Es war klar, dass Murtagh angespannt und erschöpft war. Seine Schultern waren auf eine Art nach vorne gebeugt, die auf einen tief sitzenden Zorn, vielleicht auch auf Angst hindeutete. Und dann war da seine Gnadenlosigkeit, wahrhaftig keine neue Eigenschaft, aber neu Eragon gegenüber. All das erkannte Eragon, zusammen mit anderen, weniger offensichtlichen Einzelheiten. Dann versuchte er, sie mit dem in Einklang zu bringen, was er von früher über Murtagh wusste – mit seiner Freundschaft und seiner Loyalität und seinem Groll gegen Galbatorix’ Herrschaft.
Es dauerte einige Sekunden – Sekunden, in denen sein Atem schwer ging und sie ein paar unbeholfene Schläge tauschten, die ihm einen weiteren blauen Fleck am Ellbogen einbrachten –, bis Eragon die Wahrheit erkannte. Auf einmal schien sie ihm so klar.
Es musste etwas in Murtaghs Leben geben, etwas, worauf ihr Duell sich unmittelbar auswirken würde und was Murtagh so wichtig war, dass er sich gezwungen sah, zu siegen – selbst wenn das bedeutete, dass er seinen eigenen Halbbruder töten musste. Was es auch war – Eragon hatte seine Vermutungen, einige davon beunruhigender als andere –, es hieß, dass Murtagh niemals aufgeben würde. Es hieß, dass Murtagh wie ein in die Enge getriebenes Tier bis zum allerletzten Atemzug kämpfen würde, und es hieß, dass Eragon ihn niemals mit herkömmlichen Mitteln würde besiegen können, denn das Duell bedeutete ihm nicht so viel wie Murtagh.
Für Eragon war das Duell eine willkommene Ablenkung und es kümmerte ihn herzlich wenig, wer gewann oder verlor, solange er anschließend noch in der Lage war, sich Galbatorix zu stellen. Für Murtagh war das Duell jedoch von viel größerer Bedeutung und Eragon wusste aus Erfahrung, dass sich so eine Entschlossenheit nur zu einem hohen Preis, wenn überhaupt, überwinden ließ, wenn man nichts als Körperkraft einsetzte.
Die Frage war also, wie er einen Mann aufhalten sollte, der entschlossen war, allen Hindernissen zum Trotz seinen Weg zu verfolgen und sich durchzusetzen.
Es war ein unlösbares Rätsel, bis Eragon endlich begriff, dass es nur eine Möglichkeit gab, Murtagh zu bezwingen: Er musste ihm geben, was er wollte. Um seine eigenen Ziele weiterverfolgen zu können, würde Eragon die Niederlage akzeptieren müssen.
Aber nicht vollständig. Er würde nicht zulassen, dass Murtagh frei blieb, Galbatorix’ Befehle auszuführen. Eragon würde Murtagh seinen Sieg zugestehen, aber dann würde er seinen eigenen suchen.
Während sie seinen Gedanken lauschte, wurde Saphiras Angst und Sorge immer stärker und sie sagte: Nein, Eragon. Es muss auch anders gehen.
Dann sag mir, wie, antwortete er, denn ich weiß es nicht.
Sie knurrte und Dorn ließ von der anderen Seite des Lichtkreises ein Grollen hören.
Überleg dir gut, was du tust, mahnte Arya und Eragon verstand, was sie meinte.
Murtagh kam auf ihn zugestürzt und ihre Klingen trafen mit einem lauten Klirren aufeinander. Dann zogen sie sich beide etwas zurück und hielten einen Moment inne, um wieder zu Kräften zu kommen. Als sie erneut aufeinander losstürmten, schob sich Eragon auf Murtaghs rechte Seite, während er gleichzeitig zuließ, dass sein Schwertarm etwas vom Körper abstand, wie aus Erschöpfung oder aus Achtlosigkeit. Es war eine unbedeutende Bewegung, aber er wusste, dass Murtagh sie bemerken und versuchen würde, die Lücke, die er ihm geboten hatte, zu nutzen.
In diesem Moment fühlte Eragon nichts. Er spürte nach wie vor den Schmerz seiner Wunden, doch wie aus weiter Ferne, als seien die Gefühle nicht seine eigenen. Sein Geist war wie ein tiefer Teich an einem windstillen Tag, ruhig und reglos, und doch erfüllt von den Spiegelungen der Dinge um ihn herum. Was er sah, registrierte er ohne einen bewussten Gedanken. Die waren jetzt nicht mehr nötig. Er verstand alles, was vor ihm lag, und weiteres Nachdenken würde ihn nur behindern.
Wie Eragon erwartet hatte, stürzte Murtagh sich auf ihn und zielte auf seinen Bauch.
Als es Zeit dafür war, drehte Eragon sich zur Seite. Er bewegte sich weder schnell noch langsam, sondern mit genau der richtigen Geschwindigkeit, die die Situation erforderte. Die Bewegung fühlte sich vorherbestimmt an, als sei sie die einzig mögliche.
Statt ihm die Klinge in die Eingeweide zu rammen, wie Murtagh es beabsichtigt hatte, traf Zar’roc Eragons Fleisch an
Weitere Kostenlose Bücher