Erbarmen
Verlust des Vaters, den Verlust von dessen gut gehendem Unternehmen, um das sich nun niemand mehr kümmern konnte, für den Verlust einer kleinen Schwester und eines kleinen Zwillingsbruders und darüber hinaus den Verlust der Bewegungsfähigkeit der Mutter und das Wohl der ganzen Familie. Erbärmliche anderthalb Millionen Kronen. Wenn Merete eines Tages nicht länger seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nähme, dann sollte seine Rache auch die Versicherungsmenschen und die Rechtsanwälte treffen, die sie um die Erstattungssumme betrogen hatten, auf die sie Anspruch hatten. Das hatte Lasse seiner Mutter versprochen.
Bis dahin aber hatte Merete noch für vieles zu büßen.
Sie wusste, dass sich ihre Zeit hier langsam dem Ende zuneigte, und in ihr wuchsen Angst und Erleichterung gleichermaßen. Fast fünf Jahre hatte sie inzwischen in dieser grausamen und peinvollen Gefangenschaft verbracht. Das musste nun ein Ende haben.
Als es auf Silvester 2006 zuging, war der Druck im Raum längst auf sechs bar hochgesetzt, und von den Neonröhren unter der Decke gab es nur noch eine, die nicht unablässig flackerte. Am Silvesterabend kam Lasse, festlich gekleidet, zusammen mit seiner Mutter in den Raum auf der anderen Seite der Spiegelscheiben. Er wünschte ihr ein frohes neues Jahr, und dann fügte er noch hinzu, dass es für sie das letzte Silvester sein würde.
»Den Tag deines Todes kennen wir genau, nicht wahr, Merete? Wenn du einmal darüber nachdenkst, ist es doch ganz logisch. Addierst du die Jahre und Monate und Tage, die ich gezwungenermaßen weit entfernt von meiner Familie leben musste, zu dem Tag, an dem ich dich wie ein Tier gefangen nahm, dann weißt du, wann du sterben wirst. Du sollst genauso lange in Einsamkeit leiden, wie ich es musste, aber auch nicht länger. Darauf kannst du zählen, Merete. Wenn die Zeit gekommen ist, öffnen wir die Schleuse. Das wird wehtun, Merete, aber es wird sicher auch schnell gehen. Der Stickstoff hat sich in deinem Fettgewebe angesammelt. Du bist zwar sehr dünn, aber du kannst davon ausgehen, dass sich überall in deinem Körper Luftblasen abgelagert haben. Wenn sich deine Knochen ausdehnen und die Knochensplitter erst anfangen, sich ins Gewebe zu sprengen, wenn der Druck unter deinen Plomben so groß wird, dass er sie in deinem Mund explodieren lässt, wenn du merkst, wie die Schmerzen durch deine Schulter- und Hüftgelenke schießen, dann weißt du, dass die Zeit gekommen ist. Rechne es dir aus. Fünf Jahre, zwei Monate und dreizehn Tage vom 2. März 2002 an, und schon kennst du das Datum auf deinem Grabstein. Du kannst darauf hoffen, dass die Blutpfropfen in Lungen und Gehirn dich lähmen oder dass es die Lungen sprengt und du das Bewusstsein verlierst. Aber darauf solltest du nicht zählen. Wer sagt denn, dass wir es schnell geschehen lassen?«
Am 15. Mai 2007 sollte sie also sterben. Bis dahin waren es noch einundneunzig Tage, denn heute war der 13. Februar, genau vierundvierzig Tage seit Neujahr. Seit dem Silvesterabend hatte sie jeden Tag mit dem Bewusstsein gelebt, dass sie dem Ganzen selbst ein Ende bereiten würde, ehe es so weit war. Aber noch versuchte sie, so gut es ging, die schlimmen Gedanken beiseitezuschieben und stattdessen ihre besten Erinnerungen aufleben zu lassen.
Dennoch bereitete sie sich seelisch darauf vor, sich von der Welt zu verabschieden. Oft hatte sie die Zange genommen und ihre spitzen Enden geprüft oder sie hatte das längere der beiden Nylonstäbchen betrachtet und überlegt, es durchzubrechen und die beiden Enden auf dem Betonfußboden zu scharfen Spitzen zu schleifen. Mit dem einen oder anderen dieser Gegenstände würde sie es beenden. Sie wollte sich in den toten Winkel unter den Bullaugen legen und ihre Pulsadern durchbohren. Ihre Arme waren so dünn geworden, dass sich die Adern zum Glück sehr deutlich abzeichneten.
In diesem Bewusstsein ruhte sie - bis zu eben diesem Tag.
Nachdem die Schleuse das Essen abgeliefert hatte, hörte sie wieder die Stimmen von Lars und seiner Mutter. Beide klangen gereizt, sie stritten sich.
Ach, sind sich die beiden auch nicht immer grün, dachte sie erfreut.
»Kann der kleine Lars seine Mutter auch nicht immer kontrollieren?«, rief sie. Natürlich wusste sie, dass solcher Übermut mit Repressalien bestraft würde, sie kannte die Hexe da draußen schließlich.
Aber es sollte sich zeigen, dass sie die Hexe zwar kannte, aber noch immer nicht gut genug. Sie hatte damit gerechnet, dass man ihr
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