Erbarmen
unendlich bewunderte. Erzählte von den Flammen, die über die eingeklemmten Beine seiner Mutter unter dem Sitz züngelten. Von seiner süßen und witzigen kleinen Schwester, die er so liebte und die nun zerquetscht unter ihm lag, und von dem letztgeborenen Zwilling, der so unglücklich die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte, und von dem anderen, der auf der Windschutzscheibe lag und schrie, während die Flammen immer näher kamen.
Es war so entsetzlich anzuhören. Sein Bericht setzte ihr zu, er quälte sie, Scham und Schuld drohten sie zu überwältigen. Und sie erinnerte sich dabei die ganze Zeit nur zu deutlich an die verzweifelten Schreie dieser Menschen.
»Meine Mutter kann seit dem Unfall nicht mehr gehen. Mein Bruder ist nie in eine Schule gegangen, hat nie gelernt, was andere Kinder konnten. Wegen dir haben wir alle damals unser Leben verloren. Was glaubst du, wie es ist, an einem Tag einen Vater zu haben und eine süße kleine Schwester und die Aussicht auf zwei kleine Brüder, und plötzlich existiert nichts davon mehr? Meine Mutter ist immer sehr verletzlich, vielleicht auch überempfindlich gewesen, und dennoch konnte sie manches Mal so sorglos mit uns lachen! Bis du in unser Leben getreten bist und sie alles verlor. Alles!«
Inzwischen war die Frau zu Lasse in den Raum getreten. Sein Bericht schien sie sehr zu bewegen. Vielleicht weinte sie, aber das konnte Merete nicht genau einordnen.
»Was glaubst du, wie es mir in den ersten Monaten ganz allein bei dieser Pflegefamilie ergangen ist? Wo der Pflegevater auf mich eindrosch? Auf mich, der ich in meinem ganzen Leben nichts als Liebe und Geborgenheit erlebt hatte! Es verging kein Augenblick, wo ich nicht darauf brannte, zurückzuschlagen. Dieses Schwein, das auch noch wollte, dass ich Vater zu ihm sage. Und die ganze Zeit sah ich dich vor mir, Merete. Dich und deine schönen, verantwortungslosen Augen, die alles, was ich liebte, zerstört hatten.«
Er machte eine Pause. Die wurde schließlich so lang, dass die dann folgenden Worte schockierend klar wirkten: »Oh Merete. Ich schwor mir damals, dass ich mich an dir und an allen rächen würde. Koste es, was es wolle. Und weißt du was? Heute geht es mir gut. Meine Rache an euch Schweinen, die uns das Leben genommen haben, war größer und umfassender als gedacht. Vielleicht solltest du wissen, dass ich einmal erwogen habe, deinen Bruder umzubringen. Aber dann, eines Tages, als ich euch beobachtete, sah ich, wie sehr er dich einengte, wie angekettet du durch ihn warst. Wie viel Schuld in deinen Augen zu erkennen war, wenn du mit ihm zusammen warst. Wie sehr er deine Möglichkeiten einschränkte. Wieso sollte ich dir da die Bürde abnehmen und dir das Leben erleichtern, indem ich ihn umbrachte? Und war er nicht vielleicht auch eines deiner Opfer? Also ließ ich ihn leben. Aber nicht meinen Pflegevater und nicht dich, Merete, nicht dich.«
Er war ins Kinderheim gekommen, nachdem er zum ersten Mal versucht hatte, seinen Pflegevater umzubringen. Die Familie erzählte dem Jugendamt nicht, was er getan hatte und dass die tiefe Narbe auf der Stirn des Pflegevaters von einem Schlag mit der Schaufel herrührte. Sie sagten nur, der Junge sei krank im Kopf und sie könnten die Verantwortung für ihn nicht länger übernehmen. Auf diese Weise bekamen sie einen anderen Jungen, an dem sie verdienen konnten.
Aber damals war die Bestie in Lasse geweckt. Kein Mensch sollte je wieder über ihn und sein Leben Macht bekommen.
Danach vergingen fünf Jahre, zwei Monate und dreizehn Tage, bis die Schadensersatzklage durchgesetzt war und bis seine Mutter sich gesund genug fühlte, um den inzwischen fast erwachsenen Lars bei sich und dem leicht behinderten Bruder einziehen zu lassen. Ja, der eine Zwilling hatte so schwere Verbrennungen erlitten, dass er nicht gerettet werden konnte, aber der andere hatte überlebt, trotz der um den Hals gewickelten Nabelschnur.
Solange die Mutter im Krankenhaus und in der Reha war, wurde der Kleine im Heim untergebracht. Aber noch ehe er drei Jahre alt war, konnte sie ihn mit nach Hause nehmen. Von den Flammen hatte er Narben im Gesicht und auf der Brust, und aufgrund des Sauerstoffmangels war er motorisch in jeder Hinsicht gehandicapt. Aber er war ihr in den Jahren, während sie Kraft sammelte, damit Lasse endlich nach Hause kommen konnte, ein Trost gewesen. Am Ende erhielten sie für all die zerstörten Leben anderthalb Millionen Kronen Schadensersatz. Anderthalb Millionen für den
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