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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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Schubladen platziert.
    »Lars Henrik Jensen, sagen sie.«
    »Lars Henrik, komischer Name. Es kann nicht viele geben, die so heißen.«
    Nein, dort wo Assad herkommt, bestimmt nicht, dachte Carl und wollte schon eine blöde Bemerkung machen. Aber dann sah er Assads nachdenkliche Miene. Sein Gesichtsausdruck wirkte fremd, einen Moment lang sah er ganz anders aus als sonst. In gewisser Weise gegenwärtiger als normal. Irgendwie gleichberechtigt.
    »Woran denkst du, Assad?«
    Es war, als glitte ein Ölfilm über seine Augen. Sie wurden facettenreicher, und die Farbe wechselte. Er runzelte die Stirn und griff nach der Lynggaard-Akte. Nach kurzem Blättern fand er, wonach er suchte.
    »Kann das hier ein Zufall sein?«, fragte er und deutete auf eine der Zeilen oben auf der Seite.
    Carl blickte auf den Namen und merkte dann erst, welchen Bericht Assad in der Hand hielt.
    Einen Augenblick lang versuchte Carl, seine Gedanken zu ordnen, und dann passierte es. Irgendwo in ihm, dort wo Ursache und Wirkung nicht gegeneinander abgewogen werden und wo Logik niemals das Bewusstsein herausfordert, dort, wo Gedanken sich frei entfalten und sich gegeneinander ausspielen lassen, genau dort fielen die Fakten an ihren Platz, und er begriff den Zusammenhang.
     

Kap 34 - 2006-2007
     
    Der größte Schock für sie war nicht, Daniel in die Augen zu sehen, dem Mann, zu dem sie sich hingezogen gefühlt hatte. Auch nicht, dass Daniel und Lasse ein und dieselbe Person waren, wenngleich ihr bei dem Gedanken die Beine den Dienst versagten. Nein, das Schlimmste war zu wissen, wer er in Wirklichkeit war. Das überstieg wirklich alles. Noch schlimmer war lediglich die schwere Schuld, die während ihres gesamten erwachsenen Lebens auf ihren Schultern gelastet hatte.
    Es waren nicht eigentlich seine Augen, die sie wiedererkannte, es war viel eher der Schmerz darin. Der Schmerz und die Verzweiflung und der Hass, der im Bruchteil einer Sekunde die Oberhand über das Leben des Mannes gewonnen hatte. Oder vielmehr über das Leben des Jungen, wie sie jetzt wusste.
    Denn Lasse war erst vierzehn Jahre alt, als er an einem frostklaren Wintertag im Auto seiner Eltern saß und aus dem Fenster in ein anderes Auto schaute. Dort entdeckte er ein lebenshungriges, impulsives Mädchen, das seinen Bruder auf dem Rücksitz so sehr neckte, dass es die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zog. Ihn für jene Bruchteile einer Sekunde ablenkte, in denen er sonst seine Hände fest am Steuer gehabt hätte. Die kostbaren, aufmerksamen Tausendstel von Sekunden, die das Leben von fünf Menschen gerettet und die verhindert hätten, dass drei Menschen eine Behinderung davontrugen. Nur der junge Lars und Merete kamen bei dem Unfall mit dem Leben davon - und mit ihrer Gesundheit, und aus diesem Grund musste zwischen diesen beiden abgerechnet werden.
    Sie verstand es. Und sie ergab sich in ihr Schicksal.
    In den nächsten Monaten kam der Mann, von dem sie sich unter dem Namen Daniel angezogen gefühlt hatte und den sie als Lasse nun verabscheute, tagtäglich in den Vorraum und sah durch die verspiegelten Scheiben zu ihr herein. Manchmal stand er bloß am Fenster und betrachtete sie, als wäre sie eine Zibetkatze in einem Käfig, die schon bald gegen eine Übermacht von Kobras um ihr Leben kämpfen müsste. An anderen Tagen redete er mit ihr. Selten fragte er sie etwas. Das brauchte er nicht. Es war, als wüsste er ihre Antworten schon im Vorhinein.
    »Als du aus eurem Auto schautest und in meine Augen sahst, in dem Augenblick, als uns dein Vater überholte, kamst du mir wie das schönste Mädchen vor, das ich je gesehen hatte«, erklärte er eines Tages. »Und als du mich in der Sekunde danach anlachtest und dich nicht darum kümmertest, wie viel Unruhe und Verwirrung du in eurem Auto gestiftet hattest, schon da wusste ich, dass ich dich hasste. Noch bevor wir uns überschlugen und meine kleine Schwester neben mir sich an meiner Schulter das Genick brach. Ich hörte es knacken, ist dir das klar!«
    Er betrachtete sie eindringlich und fordernd, damit sie den Blick abwandte, zu Boden sah. Aber das wollte sie nicht. Die Scham, die gab es nach wie vor. Aber das war auch alles. Der Hass war längst abgegolten.
    Dann erzählte er seine Geschichte von jenen Augenblicken, die alles verändert hatten. Davon, wie seine Mutter versuchte, die Zwillinge in dem Autowrack zu gebären, und wie ihn sein Vater liebevoll ansah und mit offenem Mund starb, der Vater, den er über alles liebte und den er

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