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Erbarmungslos: Thriller (German Edition)

Erbarmungslos: Thriller (German Edition)

Titel: Erbarmungslos: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Henshaw
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Wellen beobachtet, die gegen die Felsen schlugen. Leider saß er hier nicht, um zu meditieren, sondern weil er sehen wollte, ob die wenigen Menschen, die ebenfalls dem Wind trotzten, sich ihm langsam näherten. Das ewige Gerücht über einen Maulwurf innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit – dem Guojia Anquan Bu – hatte wieder Aufwind bekommen. Die Gefahr, enttarnt zu werden, bestand immer, doch stets hatte er die Ermittlungen unbehelligt überstanden.
    Dennoch gönnte sich Pioneer das Abendessen. Ins Restaurant Fangshan zu gehen war ein Fehler, den er wiederholt machte. In diesem Punkt scheiterte er mit seiner Disziplin. Reichtum zu zeigen war ein Risiko. Präsidenten und Minister speisten hier. Die Preise waren mit dreihundert yuan für das Menü an diesem Abend für örtliche Standards hoch, aber auch nicht das Teuerste, was er bisher hier gegessen hatte. Es war die einzige Ausgabe, die er mit dem Geld der CIA tätigte. Der Rest lag auf einem Bankkonto bei der Washington Mutual Bank in den Vereinigten Staaten und bedeutete ihm nichts. Er würde nicht lange genug leben, um es ausgeben zu können, dessen war er sich sicher, und Verräter erhielten in der Volksrepublik China keine selbst gewählte Henkersmahlzeit. Im Fall seiner Verhaftung, die gleichbedeutend mit seiner Hinrichtung sein würde, wollte er vor seinem Abgang noch einmal speisen wie ein Kaiser. Zumindest war dies die Lüge, mit der er lebte. In Wahrheit bot ihm das Essen die Möglichkeit, sich auf etwas zu konzentrieren. Er war ein Landesverräter und darauf nicht stolz, weswegen er sich immer vor einem Treffen mit seinem Führungsoffizier an den Tisch im Restaurant setzte und sein schlechtes Gewissen mit Hilfe seiner privaten Liturgie, die aus einem Menü samt grünem Tee bestand, einen Moment lang wegsperrte.
    Als er die gebratenen Garnelen und das Krabbenfleisch gegessen hatte, griff er zu seiner Teetasse. Er hatte noch ein bisschen Zeit, doch seine Gedanken rasten wie beim Countdown. Nie hörte er auf, die Minuten bis zum Treffen zu zählen. Das kleine Uhrwerk in seinem Kopf flüsterte zwar nur, drohte aber, ihn von seinen anderen Gedanken abzulenken. Wie ein unnachgiebiges, sublimes Folterinstrument quälte es ihn seit fünfundzwanzig Jahren. Nie, selbst im Schlaf nicht, verlor er das Gefühl für diesen Zeitpunkt. Ein Wunder, dass er noch nicht verrückt geworden war.
    Das Restaurant war nur halb voll. Der schmutzige, verseuchte Schnee, der draußen vom Himmel fiel, hielt die meisten Touristen davon ab, das Haus zu verlassen. Pioneer zählte drei Tische mit Westlern, ob es Amerikaner oder Briten waren, konnte er aber nicht sagen. An einem Tisch erkannte er die Gäste als Koreaner, ein Liebespaar stammte aus Thailand und eine kleine Gruppe von … Türken? Iraner? Araber konnte er noch nie von Persern unterscheiden.
    In der Ecke gegenüber sah er einen Chinesen, der, wie er selbst, allein am Tisch saß. Er hatte dieses Gesicht schon ein Mal … wann gesehen? Er verfügte über ein eidetisches Gedächtnis, doch seine Erinnerungen kamen nicht spontan. Mit ausdruckslosem Gesicht grübelte er nach. Zeit und Entfernung … hatte er den Mann heute gesehen? Ja, beim Mittagessen in der Markthalle sieben Stunden zuvor und dreieinhalb Kilometer von dem Tisch entfernt, an dem er jetzt saß – zu weit entfernt und vor zu langer Zeit. War es Zufall, dass der Mann genau hier im Fangshan saß? Möglich, aber unwahrscheinlich.
    »Ihre Rechnung, bitte.« Der Kellner legte ein Lederetui auf den Tisch.
    Pioneer nickte, wartete, bis der Kellner gegangen war, legte das Geld in das Etui und verließ das Restaurant. Er drehte sich nicht um, um nachzusehen, ob sich der ihm vertraute Mann ebenfalls erhob, um zu gehen. Das Abendessenritual war beendet, und er hatte raffiniertere Möglichkeiten, um zu prüfen, ob er verfolgt wurde.
    Pioneer blendete die Stimmen in seinen Gedanken aus, ging in der Abenddämmerung über die kurze Brücke aufs Festland und von dort in Richtung Osten.

    Taipeh
    Republik China (Taiwan)
    Die Wohnung war in jeder Hinsicht durchschnittlich. Sie lag im dritten Stock eines vielleicht vierzig Jahre alten, unauffälligen Gebäudes in einem von Taipehs ältesten Vierteln. Von außen sah es ganz ordentlich aus, war von einer kleinen Wiese, ein paar Hecken und kahlen Blumenbeeten mit Mulch umgeben, auf dem erst in ein paar Monaten Unkraut und Wildblumen wuchern würden. Die Lage der Wohnung im Haus neben der Hintertreppe hatten die Bewohner

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