Erbe des Drachenblutes (German Edition)
oder um ihre Haltung Mina gegenüber auszudrücken, wusste sie nicht. Es konnte allerdings auch daran liegen, dass es nicht üblich war, dass eine zukünftige Regentin in der Trauerzeit an einer Ratsversammlung der vereinten Völker teilnahm, das hatte Salvatorus ihr erklärt. Das war auch der Grund gewesen, dass sie – auch auf symbolische Art und Weise – abseits gesessen hatte. So wurde sie toleriert, nicht respektiert. Jetzt, wo die Versammlung offiziell beendet war, huschte sie fast ungesehen durch einen Seitengang aus dem Saal hinaus. Sie fragte sich, wie sie den restlichen Tag überstehen sollte. Das erste Mal wurde eine Drachentochter beigesetzt, ohne dass eine neue auf dem Thron saß. Aber das war es nicht, was Mina mit Sorge erfüllte. Sie fragte sich, wie sie die eigentliche Zeremonie überstehen sollte. Salvatorus hatte ihr gesagt, dass der Leichnam vor den Augen des Volkes auf einem hölzernen Podest aufgebahrt werden sollte. So hatte selbst der einfachste Bürger die Möglichkeit, sich von ihr zu verabschieden. Wenn die Sonne dann den Horizont in Brand setzte, würde das hölzerne Gebilde angezündet werden. Einst waren die Drachen aus dem Feuer geboren worden, und so war es nur recht und billig, dass die Drachentöchter am Ende zum Feuer zurückkehrten.
Mina fröstelte. Der Gedanke, dass nur ein Häufchen Asche von ihrer gerade erst wiedergefundenen Mutter übrigbleiben sollte, schnürte ihr die Kehle zu. Und dass sie die letzten Stunden des Tages mit den obersten Mitgliedern des Rates auf einem der steinernen Balkons verbringen musste, damit sie mit ihrer Anwesenheit der Regentin Respekt zollte, empfand sie als eine Demütigung. Sie wollte nur alleine mit ihrer Trauer sein, aber hier ging das nicht. So waren die Traditionen und so waren die Denkweisen in Dra'Ira. Sie musste plötzlich an Nirvan denken. Wo war er? Und warum war er ohne ein Wort des Abschieds verschwunden? Wie wichtig wäre es ihr gewesen, ihn jetzt an ihrer Seite zu haben. Auf eine eigentümliche Weise war sie sich sicher, dass gerade er sie und ihre Situation verstand, doch was nützte das, wenn keiner ahnte, wo er steckte?
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Kapitel 8: Nirvans Vergangenheit
Nirvan kochte vor Wut. Die Geschehnisse vor drei Tagen waren unvorstellbar gewesen, und so hätte es nicht enden dürfen! Heute wusste er das. Um sich abzureagieren, lief er auf und ab. Er befand sich auf einer Lichtung, in deren Nähe eine Felsformation aus dem Boden ragte. Er musste nachdenken. Nach Melanies Erklärung, dass sie ihre Mission erfüllt hatte, hatte er feststellen müssen, dass das nicht gelogen war. Sie hatte die Regentin ermordet, und sie hatte bereits alles zu ihrer beider Flucht vorbereitet. Nirvan hatte nur noch eine Möglichkeit: Er musste Melanie begleiten, bevor seine Vergangenheit aufgedeckt werden würde. Salvatorus würde nun nicht länger schweigen, da war er sich sicher. Er konnte es einfach nicht. Der Mord war eindeutig eine Tat des dunklen Kontinents. Und Nirvan kam von diesem verfluchten Ort, das wusste sein Vater. Melanies Vergangenheit kannte hingegen niemand.
Er erinnerte sich an seine Kindheit zurück, insbesondere an den Tag, an dem ihn die letzte Menschlichkeit und Liebe verlassen hatte. Es war ein verregneter Herbsttag gewesen, an dem seine Mutter von seiner Seite gerissen und in den Schuldturm geworfen worden war. Er hatte sie nie wiedergesehen und nach einigen Wochen die knappe Mitteilung erhalten, dass sie dort verhungert sei. Sie war eine liebevolle Frau und aufopferungsvolle Mutter gewesen, aber nachdem sein Vater sie beide verlassen hatte, war alles schief gegangen. Ihr Leben war von Monat zu Monat schlechter geworden, bis sie all ihre Nutztiere verkaufen mussten und die Ländereien an Gläubiger verloren. Zuletzt hatte seine Mutter nur noch einen Ausweg gesehen: stehlen, um nicht zu verhungern. Das hatte sie dann auch getan, bis sie erwischt worden war und zudem einen Bauern in Notwehr verletzt hatte. Dass es Notwehr gewesen war und der Bauer ihr möglicherweise ansonsten den Kopf eingeschlagen hätte, hatte das Gericht nicht interessiert. Sie war schuldig gesprochen und mit Nirvan zur Hafenstadt Laguz gebracht worden – Laguz, die Seele des Wassers, wie sie zu Recht auch genannt wurde. Eine Stadt, deren Gebäude alle weiß gestrichen waren und unzählige Erker hatten, die in kleine, gewundene Türmchen übergingen. Gärten wuchsen auf den Dächern der Häuser, und feine Äste oder Ranken hingen wohlduftend herab.
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