Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
herumtrieben, wo sie jagten und gejagt wurden.
Das Mal entsprach keinem von ihnen.
»In was hast du mich da reingezogen, Lily Quinn?«, fragte er leise und erhob sich. Aber natürlich bekam er keine Antwort. Als er spürte, wie ihn die Müdigkeit überkam, mit der sich für ihn das Tageslicht ankündigte, verließ er ihr Schlafzimmer, verwandelte sich noch in der Tür in eine Katze und schlich auf leisen Pfoten den Flur hinunter. Im Keller gab es genügend Verstecke, und er hatte nicht vor, sich weit zu entfernen.
Er würde sie auch bewachen, während er schlief.
Denn er hatte das ungute Gefühl, dass Lily, bis all dies vorüber war, allen Schutz brauchen würde, den er ihr bieten konnte.
In ihren Träumen wanderte Lily durch die Ruine eines Tempels, der schwarz und verkohlt war von dem Feuer, das sie so oft gesehen hatte. Sie war auf der Suche nach jemandem, aber sie wusste nicht, nach wem. Sie wusste nur, sie hatte diese Menschen für immer verloren. Sie waren Vergangenheit, genau wie das Feuer.
Traurig und verwirrt hielt Lily Ausschau nach etwas, das nie mehr zurückkehren würde. Der Wind trug die Stimme eines Manns heran. Er flüsterte ihren Namen. Lily drehte sich um, denn das einfache Wort war wie eine sanfte Berührung.
Und das Mal auf ihrer Haut begann zu brennen.
3
Als Lilys letzte Unterrichtsstunde am Montag endlich ihrem Ende entgegenging, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich die Wahrheit einzugestehen: Sie war besessen. Und es handelte sich nicht um ihre übliche Allerweltsbesessenheit. Sie war eine Meisterin darin, sich Sorgen zu machen, selbst über lächerlich kleine Dinge – aber eine Stehgreif-Liebesszene mit einem Mann, der sich einfach in Luft auflöste, fühlte sich nicht gerade klein an.
»Okay, meine Lieben, das war’s für heute. Legen Sie Ihre Aufsätze beim Rausgehen auf den Schreibtisch, und fangen Sie für das nächste Mal mit Spensers The Faerie Queene an. Höre ich da jemanden stöhnen? In meiner Einführung in die englische Literatur gibt es nichts zu stöhnen.«
Höchstens für mich , dachte Lily und betrachtete den wachsenden Papierstapel. Sie nahm ihren Becher vom Pult, von wo aus sie eine Stunde lang ihre Vorlesung gehalten hatte, und trank den restlichen Kaffee aus. Trotz der Thermosumhüllung mit der Superisolierschicht war der Kaffee so gut wie kalt. Aber sie hoffte, sie könnte – sobald der Koffeinspiegel den kritischen Punkt überschritt – vielleicht dieses seltsame, nagende Gefühl abschütteln, das sie einfach nicht loslassen wollte. Tynan MacGillivray war vermutlich ein Serienmörder. Ein total attraktiver Serienmörder. Mit hübschen silberfarbenen Augen und einem Mund, der sich anfühlte wie –
»Meine Güte, du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht durchgemacht. Hoffentlich war der Grund dafür wenigstens attraktiv.«
Lily riss erschrocken die Augen auf. Während sie ihren Tagträumen nachgehangen war, hatte sich der Hörsaal vollständig geleert.
Und ihr war das nicht mal aufgefallen.
Das muss aufhören , sagte sie sich und zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen für die Frau, die gerade durch den Mittelgang auf sie zukam. Bailey Harper hatte große Ähnlichkeit mit einem Kobold, der sich kürzlich mit einem Werwolf gebalgt hatte, was nur bedeuten konnte, dass sie direkt von der Arbeit kam. Bays lockiges blondes Haar versuchte verzweifelt, dem Pferdeschwanz zu entkommen, in den sie es gezwungen hatte, und die abgetragene Jeans und das T-Shirt waren von oben bis unten voller Hundehaare in allen Farbschattierungen. Lily ließ den Blick zu Bays Turnschuhen hinunterwandern, um zu sehen, ob vor Kurzem auf ihnen herumgekaut worden war – vermutlich, während ihre Füße noch drin steckten, so wie Lily Bays Klientel einschätzte.
»Richtet dich eigentlich jeder Hund so zu, den du badest?«, fragte Lily und zog die Stirn in Falten, weil auf Bays Nikes wahrhaftig frische Bissspuren zu sehen waren.
Bay, die inzwischen bei ihr angelangt war, kniff die Augen zusammen. »So ziemlich jeder. Und nachdem du meine Frage nicht beantwortest, muss ich wohl davon ausgehen, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. Verdammt, Lily, geh endlich in eine Schlafklinik, du fällst eines Tages noch tot um vor Erschöpfung.«
Lily seufzte und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. Sie hatte schon in den Anfängen ihrer Freundschaft mit Bay kapiert, dass es nichts brachte, mit ihr zu streiten. Die gute Frau war klein und niedlich, aber eine menschliche
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