Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
fiel, erstarb Lilys Lächeln. Langsam sammelte sie den Rest ihrer Sachen ein. Sie war so erschöpft, dass sie sich fühlte, als hingen an allen ihren Gliedern Sandsäcke. Sie beschloss, gar nicht mehr ins Büro, sondern gleich zum Auto zu gehen, mit offenem Fenster nach Hause zu fahren, um unterwegs nicht einzuschlafen, und auf der Stelle ins Bett zu fallen.
Sie konnte nur hoffen, dass sie nette Dinge träumen oder sich zumindest beim Wachwerden nicht mehr an ihre Träume erinnern würde. Beides war besser, als wieder mit ansehen zu müssen, wie die Frau mit dem roten Haar brutal ermordet wurde und ihr Blut ihr grünes Seidenkleid schwarz färbte, während ihr Baby irgendwo in der Dunkelheit schrie und die Welt in Flammen aufging.
Besser, als aufzuwachen, weil die seltsame Tätowierung wie wahnsinnig brannte.
Schon beim Gedanken daran fing die Tätowierung an zu kribbeln, und Lily lief ein Schauder über den Rücken. Sie schob die beunruhigenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das, was sie als Nächstes zu tun hatte. Sie legte die Aufsätze in ihre Umhängetasche, zusammen mit den Unterlagen, die sie für die heutige Vorlesung gebraucht hatte, dann zog sie die weiche Lederjacke an, die sie sich für den kühlen Herbst gekauft hatte. Sie hängte sich die Tasche über die Schulter, packte ihren Thermosbecher und machte sich auf den Weg. Einige Studenten winkten ihr zu, als sie Dingby Hall verließ und den Weg hinunterging, der zu einem der kleineren Parkplätze hinter den Hörsälen führte.
Sie atmete die frische Herbstluft ein und stellte überrascht fest, wie früh es inzwischen dunkel wurde. Die Sonne war bereits untergegangen, und im Westen hatte sich der Himmel dunkelrot verfärbt. Rasch ging sie Richtung Parkplatz. Außer dem Geräusch, das ihre Stiefel mit den niedrigen Absätzen auf dem Asphalt verursachten, waren nur gelegentlich in der Ferne Gesprächsfetzen zu hören. Eine Studentin, der einzige Mensch in der Nähe, stieg gerade in ihr Auto und fuhr davon. Auf einmal hatte Lily ein ungutes Gefühl im Bauch. Was tat sie da gerade? Fantasierte sie sich in die Rolle der jungen Frau, die das Böse magisch anzog?
»Ich bin nicht die dumme Tussi, die in Horrorfilmen immer als Erste stirbt«, sagte sie laut. »Dafür sind meine Titten nicht groß genug.«
Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Trotzdem ging sie schneller, als ihr Auto in Sicht kam, das auf einem inzwischen weitgehend leeren Parkplatz stand. Sie nahm gerade den Schlüssel aus der Tasche, als sich die Haare in ihrem Nacken plötzlich aufstellten. Sie beschleunigte ihren Schritt. Instinktiv wusste sie, dass sie nicht mehr allein war – sondern genauestens beobachtet wurde. Bei jedem Schritt. Bei jedem rasenden Herzschlag.
Lily schluckte und schnappte nach Luft. Ohne den Kopf zu drehen wusste sie, um wen es sich handelte. Ihre Begegnung mit Tynan MacGillivray mochte sie durcheinandergebracht und leicht benebelt zurückgelassen haben, und vielleicht hatte sich dieser Nebel auch noch nicht ganz aufgelöst – dennoch würde sie niemals vergessen, wie sie sich in seiner Gegenwart gefühlt hatte: wie ein winziger, unbedeutender Planet, der unerbittlich in die Umlaufbahn eines mächtigen und vielleicht sogar tödlichen Sterns gesogen wird.
Im Laufe der vergangenen Tage war es ihr fast schon gelungen, sich einzureden, dass ihre Begegnung gar nicht so seltsam gewesen war. Aber jetzt, wo sie sich eingestehen musste, dass jede Zelle ihres Körpers in seiner Nähe zu prickeln anfing, dass ihr normalerweise eiserner Wille immer schwächer wurde und sie bald ganz im Stich zu lassen drohte, wurde ihr klar, dass ihr erster Instinkt richtig gewesen war.
Mit diesem Mann stimmte etwas nicht. Er war gefährlich. Dennoch wandte sie sich in die Richtung, wo er – wie sie genau wusste – stand, weil sie sein Gesicht unbedingt noch einmal sehen musste.
Er stand am Rand des verlassenen Parkplatzes jenseits der Straßenlaternen, die die wenigen Wagen beleuchteten. Er sah aus, als wäre er ihren geheimsten Wünschen entsprungen und zu Fleisch und Blut geworden. Eigentlich gab es so gut wie keine dunklen Stellen zwischen den hell fluoreszierenden Lampen, aber irgendwie schaffte er es doch, im Dunkeln zu stehen. Oder , dachte Lily, während sie ihn hingerissen anstarrte, vielleicht schaffen sich Männer wie Tynan auch ihre eigene Dunkelheit. Das war verrückt … aber auch nicht verrückter als alles andere an dieser Situation.
»Lily. Wir müssen
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