Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
sich Lachfältchen in ihren Augenwinkeln, und man konnte ihre kräftigen Zähne sehen. Madeleine betrachtete Rachels Augen. Sie waren schräg und halb von den Lidern verdeckt und das Beeindruckendste am Gesicht dieser jungen Frau. Madeleine starrte sie an.
Rachels Gelächter erstarb. »Was gucken Sie denn so? Haben Sie noch nie ein Opfer häuslicher Gewalt gesehen? – Nein …«, kicherte sie, »wahrscheinlich nicht.«
Der Nikotinschub und die Vorstellung, dass sie in Zukunft jederzeit den Raum zum Rauchen (und für eine Pause) verlassen konnte, schienen ihr Auftrieb zu geben, denn sie begann loszuplaudern. Madeleine war wieder völlig verwirrt. Sie hörte nicht länger zu, sondern dachte an ihren Schwiegervater, Sam Serota, Forrests Vater. Seine Mutter stammte aus Kanton. Sie war 1945 nach San Francisco ausgewandert, um in der Wäscherei ihres Onkels zu arbeiten. Der blonde Forrest mit seinen braunen Augen hatte jedoch typisch amerikanisch ausgesehen, er hatte nichts Chinesisches an sich gehabt. Aber die Gene übersprangen auch einmal Generationen, bevor sie sich wieder zeigten. Madeleine mit ihren Yoruba-Ahnen hätte ein schwarzes Baby werden können, obwohl man an ihr keine Anzeichen von negroiden Genen erkennen konnte.
»He, Madeleine! Hören Sie zu?«
»Ja, natürlich. Können wir uns mit Ihrer Herkunft befassen, Rachel?«
»Mit meiner Herkunft?«
»Ja. Woher stammen beispielsweise Ihre Eltern und Ihre Großeltern?« Madeleine ärgerte sich im Stillen über sich selbst. Noch vor fünf Minuten hatte sie sich gegen diesen Weg entschieden, und nun schlug sie ihn trotzdem ein.
Rachel verdrehte die Augen.
»Also gut. Mein Dad stammte aus Exeter. Seine Eltern gingen in Frührente und wanderten nach Australien aus, weil Dads Schwester dort lebte und eine Unmenge Kinder hatte. Ich habe sie nie kennengelernt. Mum wurde in Bath geboren, ebenso wie ich, aber ihr Vater war Schotte. Er hatte einen so starken Edinburger Akzent, dass kein Mensch auch nur ein Wort von dem verstehen konnte, was er sagte. Er griff zur Flasche, als meine Tante Rachel mit achtzehn an Leukämie starb. Mum hat mich nach ihr benannt.« Sie zuckte die Schultern. »Das war’s. Eine einigermaßen respektable Herkunft, aber stinklangweilig. Ich bin aus der Art geschlagen, fürchte ich.«
»Britisch sehen Sie aber auch nicht gerade aus.«
»Finden Sie?«
»Sicher können Sie mir noch mehr erzählen, Rachel.«
Rachel betupfte sich weiter die Lippe. »Nein. Nichts, was erwähnenswert wäre.«
»Ich frage mich … Sie behaupten, es gebe nicht viel über Ihre Kindheit zu sagen … Könnte es sein, dass Sie adoptiert worden sind?« Madeleine krümmte sich. Welcher Teufel ritt sie?
Rachel hörte auf, sich die Lippe abzutupfen. »Warum stellen Sie mir solch eine Frage?«
»Na ja … Es könnte teilweise erklären, warum Sie nicht gern über Ihre Kindheit sprechen.« Madeleine wusste, dass die Bemerkung völlig unangemessen war. Sie sah auf die Uhr. Sie sollte Schluss machen, bevor sie zu weit ging.
Rachel atmete tief durch und seufzte übertrieben. »Ja, das habe ich mich auch schon gefragt. Vielleicht bin ich tatsächlich ein Adoptivkind.«
Madeleine starrte sie an. »Ein Adoptivkind?«
»Ja, vielleicht. Ich kann mich an nichts mehr vor meinem fünften Lebensjahr erinnern.«
»Wirklich?« Madeleine spürte, wie ihr flau wurde. Erneut begann ihr Herz zu rasen. Ihr wurde heiß, und ihre Wangen röteten sich. Sollte sie etwas sagen? Ja, das musste sie sogar. Aber sogleich machte sie sich bewusst, dass ihr Urteil durch Illusionen und Wunschdenken getrübt war. Sie führte sich vor Augen, welche Gefahr sie durch zu viel Spontaneität heraufbeschwor und welche katastrophalen Auswirkungen dergleichen haben konnte, vor allem bei einer verletzlichen Patientin.
»Können Sie sich noch einen anderen Grund vorstellen? Normalerweise sagen die Eltern ihren Kindern so etwas. Dass sie adoptiert wurden, meine ich.«
Rachel reckte den Kopf, blickte sie kurz an und kicherte dann. »Madeleine, Sie stochern da nach etwas, das schlicht nicht vorhanden ist. Ich bin nicht adoptiert worden. Ich bin nicht sexuell missbraucht worden. Ich wurde auch nicht in der Schule tyrannisiert. Die Nachttopf-Dressur war zum Kotzen, zugegeben, und die Umstellung auf feste Nahrung auch. Haferbrei habe ich verabscheut. Mann, war das traumatisch.«
»Sie haben gerade gesagt, dass Sie sich an nichts vor Ihrem fünften Lebensjahr erinnern können.«
»Ach du lieber Himmel, das war
Weitere Kostenlose Bücher