Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
siebenundzwanzig …« Sie verstummte unvermittelt.
Madeleine sah sie stirnrunzelnd an. »Siebenundzwanzig?«
»Ist ja schon gut. Ich weiß, dass ich scheiße aussehe …«
Siebenundzwanzig. Scheinbar hatte sie ihr wahres Alter versehentlich verraten, weil sie zu entspannt, nicht auf der Hut war. Rachel war eine beeindruckende Frau, sogar schön, und auf eine leicht laszive Art sexy (oder war das ihr eigenes Vorurteil, das sich auf ihr Wissen über ihre Patientin stützte?), aber sie sah um Jahre älter als siebenundzwanzig aus. Kein Wunder. Die Mixtur aus Drogen, Zigaretten, Prostitution und Schlägen war nicht gerade ein Trank aus dem Jungbrunnen.
»Sie haben mir gesagt, Sie seien dreiunddreißig. Warum hatten Sie das Gefühl, mich anlügen zu müssen?«
»Dreimal dürfen Sie raten! Wie alt seh ich denn aus?«
»Heute sehen Sie nicht gerade wie die Jüngste aus«, meinte Madeleine lächelnd. »Gut, in Ordnung. Frauen schwindeln, wenn es um ihr Alter geht.«
Rachel schwieg. Sie war auf einmal ruhelos, als habe sie die Nase voll. Madeleine hatte das starke Gefühl, dass sie drauf und dran war, sich mit einer Entschuldigung zu verabschieden. Vielleicht war die Sache mit dem Alter ein großes Problem für sie; allerdings hatte sie nie den Eindruck erweckt, eitel zu sein. Vielleicht lag der Grund aber auch darin, dass Madeleine sie bei einer Lüge ertappt hatte. Hatte sie nicht immer um den heißen Brei herumgeredet und mit der Wahrheit gegeizt? »Sie wirken unglücklich, Rachel.«
»Ich brauche unbedingt eine Zigarette. Warum verdammt können Sie nicht erlauben, dass man hier drinnen raucht? Was für eine Therapie können Sie mit jemandem durchführen, dessen Nerven blank liegen, weil er unbedingt eine rauchen muss?«
Madeleine schwirrte der Kopf. Irgendetwas war merkwürdig, aber sie wusste nicht, was. Das Gefühl verstärkte sich und machte sie nervös.
»Gut, Rachel. Fünf Minuten. Gehen Sie nach unten in die Passage.«
Rachel sah sie verblüfft an. »He!«, rief sie und beugte sich zu ihrer Tasche hinunter. »Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«
Madeleine unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Lassen Sie Ihre Tasche hier. Sonst machen Sie sich womöglich aus dem Staub. Ich warte auf Sie. Fünf Minuten.«
»Tolles Vertrauen«, grinste Rachel und nahm die Zigaretten und das silberne Feuerzeug aus ihrer Handtasche.
Madeleine sah hinter der schlaksigen Rachel her, als diese den Raum verließ. Sie stand auf und presste das Ohr an die Tür. Rachel provozierte Sylvia mit einer Bemerkung, woraufhin Sylvia es ihr mit gleicher Münze heimzahlte. Wenn sie könnten, würden die beiden einander umbringen. Sobald sie die Praxistür zuschlagen und das deutliche Klack-Klack von Rachels Cowboystiefeln auf der Holztreppe hörte, hob sie den Telefonhörer. »Sylvia, werfen Sie schnell einen Blick auf Rachel Locklears Karte und geben Sie mir ihr Geburtsdatum durch.«
Sylvia musste den Anflug von Dringlichkeit in ihrer Stimme bemerkt haben, weil sie sich bereits Sekunden später meldete. »Sie hat das Datum leider nicht eingetragen.«
»Gut, danke.«
Madeleine legte den Hörer auf und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Sekunden schlichen dahin. In einer jähen Anwandlung stand sie auf. Was zum Teufel machst du da?, fragte sie sich, als sie sich in den Sessel ihrer Patientin setzte und vorsichtig in Rachels Tasche herumtastete. Das ist unerhört. Dafür kannst du deine Zulassung verlieren; du müsstest deine Praxis schließen. Du hättest es verdient.
Eine Brieftasche! Sie öffnete sie mit heftig pochendem Herzen. In einem durchsichtigen Plastikfach steckte das kleine Foto eines Jungen, zweifellos war das Sascha. Sie warf einen kurzen Blick darauf. Lockiges schwarzes Haar und große, leicht mandelförmige Augen. Ein hübsches, ziemlich fremdländisch aussehendes Kind.
Aus einem der Fächer ragte die abgeknickte Ecke eines Versicherungsausweises hervor. Sie zog ihn heraus. Rachel Locklear. Der Name stimmte also. Madeleine stieß einen langen Seufzer aus und hielt den zerknitterten, halb eingerissenen Ausweis ins Licht, um das Geburtsdatum zu lesen.
O Gott!
Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Das war unmöglich! Dieses Datum würde sie bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen.
***
»Es ist ein Mädchen, mein Blütenblatt«, sagte die Hebamme und legte das Baby auf ihre Brust. Die stattliche Frau hatte einen komischen Akzent und eine so lustige Art der Wortwahl, dass Madeleine trotz ihrer
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