Erdbeerkönigin
Schwester Renate erzählt hat. »Er selbst glaubte sich vom Leben reich beschenkt, das hat er ihr gesagt.«
Und nun fallen mir all die Worte ein, die ich in meinen Entwürfen nicht aufschreiben konnte. »Mit seiner Bitte ist Daniel erneut in mein Leben getreten und hat gesagt: ›Guck doch mal, wie dein Leben ist. Gefällt es dir noch? Gefällst
du
dir noch? Wen hast du verletzt? Wen hast du glücklich machen können?‹« Ich wechsle einen Blick mit Alissa. »In dieser einen Nacht, in der wir am Strand auf die Elbe schauten, hat Daniel mich glücklich gemacht. So glücklich, dass ein Schimmer von diesem Glück mein ganzes Leben begleitet hat. Ohne dass es mir bewusst war.« Ich sehe in die Runde. »Vorhin ging mir durch den Kopf, dass wir Menschen einander immer so begegnen sollten wie auf Trauerfeiern. Vorsichtig, offen und um die Zerbrechlichkeit des Lebens wissend.« Hubertus nickt, und auch andere machen zustimmende Gesten.
Ich zitiere Pastor Brenner: »Wir alle wissen doch, dass es eines Tages geschehen wird, dass ein geliebter Mensch sterben wird. Unsere Eltern, Großeltern, Freunde. Aber wenn es dann geschieht, sind wir die ersten Menschen auf der Welt, denen es widerfährt. Der Verlust eines geliebten Menschen ist der größte Schmerz in der Welt.«
Alexandra beißt sich auf die Lippen und zieht Mia noch ein wenig näher an sich heran. Das Mädchen beobachtet mich mit glänzenden Augen. Ich beschließe, schnell zum Ende zu kommen, bevor sie anfängt zu weinen.
»Ich habe in diesen Tagen eine Vielzahl von Daniels kennengelernt. Einen wütenden jungen Mann, einen cleveren Geschäftsmann, einen begeisterten Kunstliebhaber, einen eigensinnigen Egozentriker, einen phantasievollen Vater.«
Die Stille im Wohnzimmer erinnert mich an die Stimmung, wenn der erste Schnee fällt. Eine lebendige Stille wie ein großes Atmen. Sie erinnert mich an mein Gespräch mit Pastor Brenner in der Stille der Kapelle. »Es bleibt wohl immer ein Rätsel zurück, wenn ein Mensch stirbt. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe den Eindruck, dass auch Dankbarkeit bleiben kann. Dankbarkeit dafür, dass wir, jeder auf seine Weise, Daniel gekannt haben. Und dass wir uns mit ihm erlebt haben. Denn offensichtlich haben wir ihn alle unterschiedlich erlebt und uns mit ihm auch unterschiedlich gefühlt. Wir haben gute Zeiten und schlechte Zeiten mit ihm gehabt.«
Vielleicht ist es genau diese Mischung aus Trauer, Rätsel und Dankbarkeit, die uns beim Tod eines geliebten Menschen erfüllt, denke ich, während ich meine Aufmerksamkeit auf meine letzten Worte richte. »Manche Verabredung hat Daniel nicht eingehalten, er hat uns enttäuscht, vor unliebsame Entscheidungen gestellt, er hat uns verletzt. Auch das habe ich in diesen vergangenen Tagen gelernt: Wir müssen Daniel loslassen, ihn ziehen lassen – und, falls nötig, ihm verzeihen. Vielleicht ist das der tiefere Sinn einer Beisetzung: dass man in diesem Ritual auch alle schlechten Erinnerungen, alle nicht gelösten Probleme, alle nicht ausgesprochenen Vorwürfe mit dem Toten verabschiedet.« Meine Zuhörer sehen mich erwartungsvoll an. Doch ich bin am Ende und breche die Stimmung mit einem burschikosen: »So, das war’s.« Es bleibt still. Dr. Lenchen legt ihre Hände aneinander und applaudiert stumm. Mein Blick gleitet noch einmal über die Anwesenden – und dann … Ich erstarre und habe das Gefühl zu träumen. Dort drüben im Türrahmen steht – Nick!
Wie lange wohl schon? Erschrocken und unsicher sehe ich zu Boden.
Mein Herz klopft sehr schnell, und ich muss tief einatmen, weil mir der Brustkorb eng wird. Nick ist gekommen! Er ist zu mir gekommen. Ich wage nicht, ihn direkt anzusehen. Aber dann kann ich nicht anders und hebe den Blick. In diesem Moment tritt Hubertus auf mich zu. »Danke, Eva, das war wunderbar. Ich mochte den Ausdruck Grabrede noch nie. Deshalb ist es toll, dass du deine Rede hier gehalten hast. Das hätte Daniel bestimmt auch besser gefallen.« Er umarmt mich, und dann kommt Theo dazu und Alexandra und Mia, und für einen Moment sind wir ein großes Knäuel aus Umarmungen. Die anderen klatschen, einige stehen auf und kommen zu uns. Ich schüttle Hände und lasse mich von Fremden in die Arme ziehen, nicke und erwidere Wangenküsse. Dabei versuche ich, Nick nicht aus den Augen zu verlieren. Eine Zeitlang gelingt es mir, doch dann kommt Filou und hebt mich hoch. »Ma Belle, was für eine Rede. Fan-tas-ti-que!« Er wiegt mich in seinen Armen wie
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