Erdbeerkönigin
ein Kind, und als er mich wieder auf den Boden setzt, ist Nick verschwunden.
Ich versuche, mich aus der Traube zu lösen, doch noch immer gibt es Menschen, die mir zu meiner Rede gratulieren möchten. Oder sie erzählen mir ihre Geschichte mit Daniel. Die Worte rauschen an mir vorbei, und ich sehe mich ständig heimlich nach Nick um. Während mir ein gepflegter Endfünfziger im eleganten Anzug berichtet, wie er Daniel in Basel auf einer Kunstmesse kennengelernt hat, frage ich mich nervös, ob ich mir nur eingebildet habe, dass Nick gekommen ist. Ich schiebe den Kunsthändler sanft von mir und bewege mich langsam zur Wohnzimmertür. Stanislaw beobachtet mich und zieht sein Akkordeon auf. Wie ein langgezogenes trauriges Seufzen hört es sich an. Aber die Melodie, die er spielt, ist zärtlich und melancholisch und beschwingt. Ein kleiner, schnörkelloser Walzer. Filou verbeugt sich vor Alissa, sie nickt ihm zu, legt ihre Hand in seine, und die beiden drehen sich langsam durch das gedrängt volle Wohnzimmer. Alexandra und Hubertus machen es ihnen nach. Maria und ihr Begleiter sind ebenfalls dabei, und dann sehe ich gerührt, wie sich Sven Berger zu Mia hinunterbeugt und stockend ein paar Schritte mit ihr wagt. Nach zwei, drei Drehungen entschuldigt er sich, und Mia begleitet ihn zum Sofa, von wo er mit einem träumerischen Ausdruck auf dem blassen Gesicht die Tanzenden beobachtet.
Wo ist Nick? Endlich bin ich im Flur, schaue in alle Zimmer. Aber er ist nirgendwo zu finden, obwohl ich sogar im Badezimmer nachsehe.
Ratlos beende ich meinen Rundgang wieder im Wohnzimmer. Und dort sehe ich ihn tatsächlich: Er tanzt – vorsichtig und gekonnt – mit Dr. Lenchen. Als die beiden mich sehen, lächeln sie mir zu. Obwohl ich Dr. Lenchen mag, habe ich nur Augen für Nick. Er blickt mich an. Mit diesen klaren, hellen Augen, deren Schönheit ich vergessen hatte. Nein, vergessen ist das falsche Wort. Ich habe mich an ihre Schönheit gewöhnt. Statt mich jeden Tag daran zu freuen, habe ich sie in letzter Zeit übersehen. Heiß schießt Scham in mir hoch. Wie konnte ich über die Kaffeemaschine jammern, während diese Augen auf mich gerichtet waren? Wieso habe ich nicht in sie hineingesehen, statt über die Eintönigkeit meiner Tage zu lamentieren?
Hubertus stellt sich neben mich. »Dieser Abend hätte Daniel gefallen«, sagt er. »Die Lieder, die Musik, die Erinnerungen, der Wein – er hätte getanzt und gelacht und bestimmt zu viel getrunken.« Ich nicke geistesabwesend und sehe hinüber zu Nick.
Hubertus folgt meinem Blick. »Freunde von dir?«
»Meine Freundin Dr. Lenchen und Nick, mein Mann.«
»Dein Mann ist auch gekommen?«, fragt Hubertus erstaunt.
»Ja. Aber ich habe noch gar nicht mit ihm sprechen können«, antworte ich und kann meine Ungeduld kaum verbergen. Hubertus fängt meine Stimmung wohl auf, denn er sagt schmunzelnd: »Na, dann will ich dich nicht länger in Beschlag nehmen. Aber ich bestehe darauf, dass du uns einander später vorstellst.«
Er will noch mehr sagen, doch Theo kommt vorbeigetanzt. »Diese Musik ist großartig!«, ruft er. »Hör mal!« Hubertus und ich erkennen das Stück im selben Moment: Stani rockt jetzt »Smoke on the Water«, und das Wohnzimmer steht kopf. Theo, Hubertus und ich bewegen uns rhythmisch am Rand der Tanzfläche, und ich versuche vergeblich, Nick und Dr. Lenchen auszumachen.
In diesem Moment schrillt abermals die Türglocke.
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20 . Kapitel
Wer ist Deiner Meinung nach die großartigste Person, die je gelebt hat?
(Gesprächsstoff: Original)
Immer noch Dienstagnacht, Tag 14
A ls ich öffne, steht ein ärgerlicher Mann in weinrotem Pyjama und lindgrünem Bademantel vor der Tür und bittet um Ruhe. Das heißt, er krakeelt: »Seit anderthalb Stunden klopfe ich gegen die Decke, und nichts ändert sich!« Es fällt mir schwer, in dem aufgebrachten Mann Herrn Majakowski zu erkennen, den ich in der Kneipe um die Ecke gesehen habe, denn sein Gesicht hat die Farbe seines Pyjamas angenommen. Seine Frau, ebenfalls im weinroten Pyjama, steht neben ihm.
Beide beschweren sich nun lautstark. Etwas hilflos blicke ich mich nach den anderen um, aber die haben sich wohl wieder ins Wohnzimmer verzogen, aus dem jetzt vielstimmig »Das Herz von St. Pauli« dringt. »Auch noch Pauli-Fans im Haus«, erregt sich Pyjama-Majakowski, als handle es sich um eine ekelerregende Substanz. Matt versuche ich Gegenwehr zu leisten. »Bitte entschuldigen Sie, wir verabschieden heute Abend
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