Erdbeerkönigin
Krankenschwester habe auch ich auf dem Land mitunter mit kranken Obdachlosen auf der Durchreise zu tun. Ich zähle bestätigend auf: »Erfrierungen, Alkoholismus, Diabetes, Amputationen und häufig Hautkrankheiten aufgrund mangelnder Körperhygiene.«
Dr. Lenchen nickt. »Wir haben hier in Hamburg einen Arzt, der sich im Auftrag der Caritas medizinisch um die Obdachlosen kümmert. Sie kommen mittlerweile aus allen möglichen Ländern, viele aus Osteuropa, wie Stani.«
Bevor ich nachdenken kann, platzt es aus mir heraus: »So etwas müsste bei mir auf dem Land doch auch möglich sein.«
»Vielleicht gibt es das ja schon.«
Ich runzle die Stirn. »Nicht in unserem Landkreis, das wüsste ich.«
Wir schweigen. Wie wäre es, wenn ich mich darum kümmern würde? Im Krankenhaus müsste sich lediglich jemand bereit erklären, das Projekt mitzutragen. Dann müsste man Praxisräume finden und Menschen, die finanzielle Unterstützung leisten können.
»In eurem Landkreis gibt es das nicht?«, wiederholt Dr. Lenchen und holt mich damit aus meinen Gedanken.
»Nein, aber das könnte ich vielleicht ändern«, antworte ich langsam. Während ich meinen eigenen Worten lausche, spüre ich, dass ein solches Projekt genau das Richtige für mich wäre.
»Eine großartige Idee«, sagt Dr. Lenchen. »Ich könnte mir dafür keine Bessere vorstellen als dich«, ergänzt sie liebevoll.
Dann schaut sie auf die Uhr. »Für einen Kaffee haben wir noch Zeit, danach müssen wir los.«
Sie gießt mir Kaffee nach.
»Warum wollen Sie unbedingt in die Kirche?«
»Ich gehe jeden Sonntag hin.«
»Aber warum?«
Dr. Lenchen lächelt mich mit ihren grünen Scheinwerfer-Augen an. »Das hat einen simplen Grund. Am Ende des Gottesdienstes heißt es immer: ›Der Herr segne dich und behüte dich.‹ Ist das nicht großartig? Da wird man jeden Sonntag gesegnet! Ohne großes Brimborium. Mir tut das gut. Das will ich nicht verpassen.« Sie greift nach der Zuckerdose. »Verstehst du?«
Mir gefällt Dr. Lenchens Einstellung – und wenn es ihr gelingt, diesen Segen wörtlich zu nehmen und in ihr Leben hineinzulassen, erscheint es mir für sie eine gute Sache zu sein. Außerdem hat sie recht: Ein bisschen Segen können wir alle gebrauchen.
Also nicke ich auf ihre Frage.
Dr. Lenchen fragt: »Wann ist eigentlich die Beisetzung?«
»Nächste Woche.« Mir fällt etwas ein. »Hätten Sie nicht Lust, mich vielleicht sogar mit Stani am nächsten Dienstag zu besuchen?« Ich erkläre Dr. Lenchen, was sich Hubertus und Theo ausgedacht haben. Sie hört aufmerksam zu, lehnt aber zu meiner Enttäuschung ab. Dabei hätte ich mich mit ihr an meiner Seite sicherer gefühlt.
»Ich kannte Daniel doch gar nicht. Außerdem bin ich am Dienstagabend beim Schwimmen.« Sie tätschelt meine Hand. »Aber vielen Dank für die Einladung.« Sie notiert sich dennoch die Adresse. »Wer weiß, vielleicht bin ich ja nach dem Schwimmen noch unternehmungslustig.« Doch ihr Tonfall klingt zu endgültig, als dass ich mir Hoffnungen machen könnte.
Wir räumen den Tisch gemeinsam ab. Dr. Lenchen sagt: »Dieser beste Freund von deinem Daniel. Dieser Anwalt …«
»Hubertus?«
Dr. Lenchen nickt.
»Ja. Was sagt der zu deiner Berufung als Grabrednerin? Er ist schließlich deinen Worten nach zu urteilen Daniels engster Vertrauter gewesen.«
Ich sehe sie stumm an. Innerlich muss ich ihr recht geben. »Ich rufe ihn gleich an.« Dr. Lenchen reicht mir meine Handtasche.
Hubertus sitzt mit Theo ebenfalls beim Frühstück, beteuert jedoch, dass ich ihn nicht störe. »Daniel und ich haben lange über alles gesprochen«, bestätigt er meine Vermutung. »Aber weißt du, Eva, das ist kein Thema fürs Telefon. Wollen wir uns nicht treffen?«
»Aber nicht die Kirche vergessen«, flüstert mir Dr. Lenchen besorgt zu, als sie mitbekommt, dass ich mich mit Hubertus verabreden will. Ich schüttle beruhigend den Kopf.
»Was hältst du von einem besonderen Sonntagsspaziergang?«, fragt Hubertus.
»Warum besonders?«
»Ich will nachher zum Friedhof Ohlsdorf fahren. Dort wird Daniel beigesetzt.«
»Ein Spaziergang auf einem Friedhof?« Mein schlechtes Gewissen, noch nie Mamas Grab besucht zu haben, drückt mal wieder. Ich bin von Hubertus’ Idee wenig angetan.
»Ohlsdorf ist wirklich ein besonderer Ort«, versucht Hubertus meine Bedenken zu zerstreuen. »Es ist der größte Friedhof in Europa und vielmehr ein Park. Du wirst schon sehen.«
Wir verabreden uns für den Nachmittag vor
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