Erdbeerkönigin
wie ich mich verhalten soll. Weinen ist ein so privater Moment. Die Welt steht in diesen Tagen still für Hubertus. Jedes Wort von mir wäre falsch.
Hubertus räuspert sich. »Morgens ist es besonders schlimm. In der vergangenen Woche hatte ich so viel zu tun, da war ich abgelenkt. Nachts in der Stille, als ich nicht schlafen konnte, hatte ich dann auf einmal das Gefühl, doch etwas verstanden zu haben von diesem Sinnlosen – empfand Dankbarkeit für die Zeit mit ihm, für das, was unsere Freundschaft war. Aber das waren nur Sekunden. Am Morgen wieder der Absturz. Die Realität. Das Unfassbare, das wie eine Wand vor einem steht. Der Welt ist das gleichgültig.« Er seufzt. »Im Krankenhaus gab es eine nette Schwester. Sie hielt viel von Daniel. Daniel hat einmal gesagt, er sei durch die Tatsache, dass Schwester Renate ihn für einen guten Menschen hielt, tatsächlich ein besserer Mensch geworden.«
Er ist in Gedanken weit weg und wiederholt langsam seine letzten Worte: »Ein besserer Mensch.«
»War es Daniel denn wichtig, ein guter Mensch zu sein?«
Hubertus sieht nach oben. Er sucht nach Worten.
»Am Ende wohl schon. Ich glaube, dass er manchmal das Gefühl hatte, an sich selbst vorbeigelebt zu haben. Sich selbst verloren zu haben.«
Die graue Wolkendecke über uns reißt auf, und ein heller Sonnenstrahl fällt durch das grüne Blätterdach, das sich über der kleinen Allee zu einem lichten Dach formt.
»Wieso hat Daniel nicht mehr gemalt?«
Hubertus zuckt mit den Achseln. »Wer sagt, dass er das nicht getan hat?«
»Es gibt kein Atelier, keine Staffelei, keine Bilder. Nur ein paar Skizzen.«
»Ich glaube, dass Daniel ständig gemalt hat – ohne einen Pinsel zu benutzen.« Er lächelt, als er mein erstauntes Gesicht sieht. »Das klingt merkwürdig, ich weiß. Aber Daniel hat die Welt durch Gemälde wahrgenommen.« Er zeigt auf den Weg vor uns, deutet auf die Lichtreflexe, umfasst mit einer Bewegung das gewölbte Grün der Baumkronen. »Das hier könnte ein Monet werden. Ein Beckmann oder eben ein Daniel Eisenthuer. Daniel hat in seinem Kopf immer gemalt. Ohne dabei Bilder zu produzieren.«
»Aber was hat ihn denn gehindert, echte Bilder zu malen?«
Hubertus runzelt die Stirn. »Er hatte sich sein Leben anders vorgestellt. Er hatte davon geträumt, auf die Kunsthochschule zu gehen und von dort ins Ausland. Die große Tour: New York, Paris, Rom, Berlin. Aber dann ist er abgelehnt worden.« Er sieht mich nicht an, als er fortfährt: »Und auch andere Pläne sind nicht aufgegangen. Aus unterschiedlichen Gründen. Er hat mal gesagt, er glaubte, er wäre ein schlechter Maler geworden.«
»Warum?«
»Er fühlte sich zeitweilig wie ein Spießer. Deswegen hat er dann auch die Galerie eröffnet. Vielleicht, weil ihm klargeworden war, dass er mehr von seinem Vater hatte, als er dachte. Oder dass er durch seine Erziehung letztlich nicht zum Künstler ohne Wenn und Aber werden konnte. Ein wahrer Maler
muss
malen, gleichgültig, ob er am Ende damit Geld verdient oder nicht. Doch dafür war Daniel nicht gemacht. Er wünschte sich eine schöne Wohnung, er brauchte einen gewissen Lebensstandard.«
Hubertus fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Außerdem war ihm die Meinung anderer immer noch wichtig. Er wollte nicht belacht werden als Galerist, der nebenbei malt. Leider wurde Daniel nicht alt genug, um auf die Meinung der Welt zu pfeifen. Mit achtzig kümmert es dich einen Dreck, was die anderen Leute sagen. Da ist es dir gleichgültig, ob dich andere für einen Hobbymaler halten. Mit achtzig malst du ohne Bedenken.«
Ein altes Paar kommt uns entgegen. Der Mann geht langsam, mit vorsichtigen Schritten. Seine Frau ist beweglicher, passt sich aber seinem Tempo an. Sie halten einander locker an den Händen und nicken uns freundlich zu.
Ich versuche noch einmal meine Frage zu stellen. »Wieso wollte Daniel, dass ich an seinem Grab spreche?«
Hubertus öffnet seinen Jackenkragen. »Du hast ihm viel bedeutet.«
Ich sehe ihn überrascht an.
»Ich dachte, er hätte mich längst vergessen.«
»Hattest du
ihn
vergessen?«
»Ja. Nein.« Ich finde keine Worte.
Hubertus nickt. »Ich weiß, was du meinst. Es gibt Erinnerungen, die keine Verbindung zur Gegenwart haben, stimmt’s?«
»Genau.«
»Aber du warst für Daniel immer gegenwärtig.«
Das muss ich erst einmal verdauen. Endlich frage ich: »War er in mich verliebt?« Ich komme mir fast albern dabei vor. Und noch alberner ist mein rasendes
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