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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schütze
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Blick sieht, sagt er schnell: »Edward Elgar kennst du vielleicht von diesen berühmten Promenadenkonzerten in London. Da übertragen sie auch im deutschen Fernsehen immer das letzte Konzert, ›Last Night of the Proms‹, und am Schluss spielen sie sein bekanntestes Stück ›Pomp and Circumstances‹.« Er summt eine Melodie, und sofort taucht das Bild eines überfüllten Konzertsaals in meiner Vorstellung auf. Ausgelassene Menschen schwenken bunte Fahnen, und ein riesiges Orchester spielt.
    Hubertus sieht das Erkennen in meinem Blick. »Dieser Liederzyklus, aus dem Alexandra etwas hören möchte, ist jedoch etwas anderes, sehr ernst und getragen. Das Lied heißt ›Sabbath Morning at Sea‹, nach einem Gedicht von Elizabeth Barrett Browning, einer englischen Dichterin. Warte mal …« Er blättert weiter und entnimmt dem Notizbuch einige zusammengefaltete Seiten. »Das hier ist der englische Text, den wir auch im Lied hören werden. ›The ship went on with solemn face, to meet the darkness on the deep.‹« Ich bemühe mich erst gar nicht, das Englische zu verstehen, sondern lausche, als würde ich Musik hören. Hubertus hält inne und entfaltet ein weiteres Blatt. »Mein Juristen-Englisch reicht für Lyrik nicht aus, deswegen habe ich mir eine Übersetzung besorgt.« Er liest wieder: »Das Schiff zog fort mit ernstem Blick/der Dunkelheit über der Tiefe zu begegnen …« Während die Tropfen fallen und ab und an der Wind die Blätter in den Ästen über uns rauschend bewegt, höre ich ihm zu. Seine Stimme verschmilzt mit dem Regen und dem Blätterrauschen. Nur seine ersten Sätze leuchten in meinem Gedächtnis: »Das Schiff zog fort mit ernstem Blick/der Dunkelheit über der Tiefe zu begegnen …« So wie Daniel fortgezogen ist, der Dunkelheit über der Tiefe zu begegnen.
    Wir sitzen lange unter dem Blätterdach. Als ob wir uns schon ewig und gut kennen. Dann steht Hubertus auf, steckt sein Notizbuch ein. »Komm mal mit, ich will dir etwas zeigen.« Er spannt den Schirm wieder auf, und wir gehen nebeneinander auf dem breiten Weg. Der Schirm ist groß genug, dass wir beide geschützt sind, uns aber beim Gehen nicht berühren.
    »Welche Musik gibt es noch?«, frage ich nach einigen Schritten.
    »Ich hatte an ›My Way‹ von Frank Sinatra gedacht, aber Francesca hat sich mit einem französischen Chanson durchgesetzt. Das Lied heißt ›Je veux‹, also ›Ich will‹, die Sängerin nennt sich ZAZ . Kennst du das Lied?«
    Ich muss verneinen. Hubertus lächelt. »Der Text ist sehr charmant: Gebt mir eine Suite im Ritz – die will ich nicht. Schmuck von Chanel? Will ich nicht! Eine Limousine? Nein, ich will die Liebe, die Freude, gute Laune … meine Freiheit entdecken …« Er zieht die Schultern hoch, als ob er frieren würde. »Ein wenig übertrieben, aber ich muss zugeben, dass ich Francescas Wahl gut finde. Das Lied ist lustig und schnell und ist nicht so bedeutungsschwer wie Alexandras und mein Vorschlag.« Hubertus sieht starr geradeaus. »Warum sollen wir an diesem Tag nicht das Leben feiern?! Daniel ist tot. Aber das Leben ist noch da. Die Welt dreht sich weiter.«
    Er klingt fast zornig, und ich sehe, dass seine Kieferknochen arbeiten. Als er meinen Blick spürt, wendet er sich ab und hält seine Hand testend in die Luft. Als seine Untersuchung zu seiner Zufriedenheit ausfällt, klappt er mit entschiedenen Bewegungen den Schirm zusammen.
    Wir gehen weiter. Die Wege sind menschenleer, und die Regentropfen hängen schwer an den Blättern. Als Hubertus spricht, zucke ich zusammen, weil seine Stimme so wütend und rauh klingt.
    »Stell dir das mal vor: Dein bester Freund stirbt, und diese beschissene Welt dreht sich ungerührt weiter.«
    Er stößt beim Gehen mit der Schirmspitze in den Boden, als wolle er seinen Zorn aufspießen.
    »Du hast ihn nicht so gut gekannt wie ich. Er war nicht Teil deines täglichen Lebens. Aber für mich ist es so schwer, mit Daniels Tod zu leben. Je-den Tag!« Bei jeder Silbe sticht er wieder ärgerlich die Schirmspitze in den Boden. Dann schiebt er seine Unterlippe vor und sieht mich wütend an. »Seit über zwanzig Jahren ist er mein Freund. Wir haben uns fast täglich gesehen. Wir sind gemeinsam gejoggt, sind im Sommer zum Segeln an die Alster gegangen. Wir sind zusammen verreist, wir haben gefeiert.« Er fährt sich mit der Hand über die Augen. Sie sind gerötet. Mit fahrigen Bewegungen zieht er ein Taschentuch aus der Jackentasche, putzt sich die Nase. Ich weiß nicht,

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