Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Cockpit über der Lüftung.
Im Cockpit?
Ich nehme ruckartig den Fuß vom Luftstrom.
Ich sitze vorn?
»Alles gut?«, fragt Khaled.
Ich schaue auf den Tacho. Wir sind schon hundertfünfzig Kilometer gefahren, und mir wird jetzt erst bewusst, dass ich das zum ersten Mal mache. Ich bin einfach vorne statt hinten eingestiegen. Khaled hat es nicht kommentiert. Ich stecke das Telefon in die Tasche und falte die große alte Straßenkarte auf, die im Türrahmen steckt. Das Papier ist an den Rändern weich und dünn, als hätte Khaled es jahrzehntelang zwischen den Fingerkuppen zerrieben. Wir fahren auf der A12 Richtung Norden, die sich an der Grenze zu Lettland in die A8 verwandelt. Draußen ist alles schön. Wälder, Flüsse, Weiden, Höfe. Ein Bildband über das Münsterland oder die Pfalz hat sich aufgefaltet und um den Jeep gelegt. Wo ich hingucke, sehe ich Gegend. Kein Fallout, kein grauer Staub, keine Atemmasken. Und meine Finger, die Caterina bereits das nächste geflötete Hallo senden wollen. Es ist zum Mäusemelken. Ich studiere die Karte des Landes, dem wir uns nähern. Rund um die Hauptstadt Riga ist mehrfach der Stern Israels abgedruckt. Ich versuche, die Wörter daneben zu entziffern.
»Was ist das?«, frage ich Khaled und halte ihm die Karte hin. »Die Judensterne hier. Und da. Was ist das?«
Er schaut kurz drauf und kneift die Augen zusammen.
»Biķernieki und Salaspils. Schlimme Geschichte. Konzentrationslager. Mordwald. Nazis. Zweiter Weltkrieg. Ganz schlimm.«
»Mordwald?«
»Ja. Biķernieki. Viele Leichen. Tausende Tote. Eine Schande.« Khaled schüttelt den Kopf und schaut auf den Tacho. Als sei es für ihn undenkbar, dass Menschen tun, was sie tun, wenn sie gerade mal nicht Frieden haben. Womöglich ist er doch kein Waffenhändler.
»Da will ich hin«, sage ich.
»Nach Biķernieki?«
»Ja. Du wolltest doch sowieso in Riga Zwischenstopp zum Mittagessen machen, oder?«
»Ja. Ich habe Freund in Riga, Krišjānis. Ist Koch. Wenn wir wollen, er brät uns ein Lamm.«
»Gut. Dann bring mich vorher in den Mordwald.«
»Ernst?«
»Und wie.«
Khaled nimmt eine Nuss, schiebt sie zwischen untere Zahnreihe und Lippe, rollt sie wieder hoch und schluckt sie wie ein Bonbon. Dann nickt er: »Okay. Ich respektiere. Aber nicht beklagen, wenn die Seele danach noch schwerer.«
»Das ist der Sinn der Übung«, murmele ich.
»Wie?«
»Ach, nichts …«
Zwei Stunden später stehen wir im Wald. Kiefern, überall, ein beruhigender Duft. Und die Sonne, die auch in Lettland jeden Winkel erfüllt. Eine flache Treppe aus hellem Stein führt aus dem Waldstück hinab zu der kleinen Gedenkstätte. In ihrer Mitte stehen vier weiße Stelen mit einem gleichmäßigen Kreuz als eine Art Dach, ein marmorner Gedenkstein darunter. Khaled übersetzt für mich, was daraufsteht: »Ach, Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt!«
Drum herum erstreckt sich in alle Richtungen ein Feld aus groben, scharfkantigen Granitsteinen; dicht an dicht in den Boden gesteckt wie namenlose Grabsteine oder wie schwarze, abgestorbene Zähne. Ich starre zehn Minuten auf die Gesamtskulptur und empfinde nichts. Der Ort ist geformt wie ein Kunstwerk, aber das formlose Grauen, das Chaos und die Agonie – das kann es nicht ausdrücken. Weil ein Kunstwerk eben gemacht ist, mit Ruhe und Bedacht. In diesem Wald aber fand ein Massenmord statt. Tausende von Menschen aus dem Gut Jungfernhof, die als nicht arbeitsfähig galten, wurden zwischen diesen Kiefern ermordert. Ihre Brüder, Onkel oder Söhne, die arbeiten konnten, bauten ein Stück weiter westlich das KZ Salaspils auf. Sie schufteten in bitterster Kälte, um einen Ort zu erschaffen, der dazu diente, sie später umzubringen. Diesen Wahnsinn kann kein Werk ausdrücken, keine Musik, kein Bild. Nicht mal ein Schrei, der nun begänne und den man dann fortführte, hundert Jahre lang, ohne abzusetzen. »Ach, Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt!«
Ich gehe in den Wald zurück, zwischen die Bäume. Selbst hier sind die Fundorte der Massengräber markiert. Mal in Form eines großen Rahmens aus Beton, mal durch einzelne Steine und Stelen. Ich lasse auch sie hinter mir und gehe weiter bis in den Teil des Waldes, wo keine Menschenhand ein Gedenken geformt hat. Wer weiß, ob nicht trotzdem auch hier Leichen lagen und ein paar Meter unter der Erde verwest sind, unmarkiert und anonym. Ich möchte irgendwie, das dem so ist, dass ein paar der
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