Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Hätte sie gewollt, dass ich rausgehe und mitfeiere, als die Fußball-WM stattfand? Dass ich die Vereinbarung breche und meine WG-Familie, meine wahre Familie, ausgerechnet an Heiligabend wiedersehe, wenn die Nerven ohnehin blank liegen? Damit wir uns wieder gegenseitig Vorwürfe machen? Hauptsache, Chris Rea singt »Driving Home For Christmas«? Das kann mir doch keiner erzählen.
Eines aber weiß ich sicher: Lisa hätte nicht gewollt, dass ich mich umbringe. Sie kennt den Tod schon jetzt. Sie hatte keine Wahl. Sich freiwillig in dieses Dunkel zu stürzen wäre das Mieseste, was man ihr antun könnte. Fahre ich allerdings weiter, reiße ich wirklich irgendwann das Steuer rum. Also bleibe ich. Woche um Woche. Den Herbst. Den Winter. Jetzt brechen draußen die ersten Krokusse aus den Grünstreifen. Verfluchte Grünstreifen.
»Sie wohnen seit Monaten hier und haben noch nie das Rührei probiert«, klagt die Chefin und zeigt auf meine Schüssel mit pappigem Müsli. Der Speisesaal des Motels an der Avus liegt im früheren Zielrichterturm. Frühstücksraum am Morgen, Restaurant am Abend. Kreisrund und dunkel. Ich schaue aus dem Fenster auf die Stadtautobahn, die zwischen Funkturm und Nikolassee einst eine Rennstrecke war. In Massen schiebt sie die Blechlawine aus der Stadt hinaus und in die Stadt hinein, wie ein Fließband aus Asphalt.
»Was für ein Mann geht über zweihundert Tage lang jeden Morgen am Rührei vorbei? Gucken Sie hier, es ist sogar krosser Schinken in der Wanne.« Die Chefin hebt den Deckel. Heißes Kondenswasser tropft hinab. Tische bilden Buchten mit Sitzbänken. Die Gäste, die abends freiwillig kommen, hängen ihre Jacken an dunkelgrüne Säulen mit Kleiderhaken, einigen sich darauf, wer innen sitzt, seufzen schwer, stützen ihre Hände auf die Tischplatte und schieben sich in die Bank. Die Säulen mit den Haken biegen sich auf Kopfhöhe nach außen. Hängte man einen Mann am Kragen seiner Jacke daran auf, würde er mit fünfzig Zentimeter Abstand zur Säule baumeln.
»Das ist Bio-Schinken! Ich wollte es nur mal gesagt haben!« Die Chefin schließt den Deckel.
In die Tische sind Collagen aus alten Zeitungsartikeln über die Rennen eingelassen. Sie liegen unter Glasplatten, genau wie unsere Urlaubsfotos damals im runden Wohnzimmertisch der WG. Im Treppenhaus ist ein klassisches Plakat direkt auf die Wand gemalt. AVD AVUS Rennen. Großer Preis von Berlin 1958. Zwei alte Silberpfeile mit Piloten, die Schutzbrillen und Ledermützen tragen. Unter dem Bild sitzen künstliche Pflanzen in einem Betonbeet aus braunroten Fliesen. Ich denke an uralte Rennspiele, die modern aussahen, als sie erschienen sind. Spielt man sie zehn Jahre später erneut, wirken sie genau wie dieser Flur: Die Erinnerung an sie glänzt in tausend Farben, aber heute sieht man nur noch unförmige Pixelklumpen.
»Ich könnte es mir auch einfach machen!«, sagt die Chefin nach einem Abstecher an die Rezeption und Bar nebenan. Sie knetet ein Spültuch. »Ich könnte den Schinken bei der Metro kaufen. In 10-Kilo-Brocken. Analogschinken. So. Und was mache ich? Ich bestelle ihn beim Brandenburger Bio-Bauern!«
Auf der Ebene zwischen dem Eingang zum Restaurant und dem ersten Stock mit Zimmern gibt es eine Sitzecke mit ledergepolsterten Holzbänken. Man kann von hier aus auf das Betonbeet hinabsehen. Die Sitzecke stellt das dar, was in einem richtigen Hotel das Foyer wäre. Ein Raum, um sich außerhalb des eigenen Zimmers aufzuhalten und gemütlich die Zeitung zu lesen. Das soll diese Ecke sein, aber das ist sie nicht. Niemand kann hier sitzen und auch nur einen Satz lesen, ohne vom Unbehagen des Raumes erwürgt zu werden. Es surrt zwischen den Etagen. Ein durchdringendes, Migräne erzeugendes, elektrisches Foltergeräusch. Gäste, die einen Prospekt aus dem Touristikständer ziehen, oder LKW-Fahrer, die ihren kleinen Koffer die Treppe hinauftragen, sehen mich verwirrt an, wenn ich auf dem alten Leder inmitten des Surrens sitze. Ihre Blicke beweisen, was für einen Nicht-Ort diese Bank darstellt. Entweder ist man auf seinem Zimmer oder in der Bar, wenn man geistig gesund ist, aber doch nicht hier, in der Sitzecke im Treppenhaus.
»Bio!«, schimpft die Chefin, nimmt einen krossen Schinkenstreifen zwischen Zeigefinger und Daumen und beißt demonstrativ davon ab.
Der andere Nicht-Ort, an dem ich meine Zeit verbringe, ist die verrottete alte Tribüne schräg gegenüber, auf der sich die Zuschauer früher die Rennen angesehen haben. Sie
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