Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
feige, sadistische Ratten. Verstehst du mein Problem? Meine Familie trägt die schwere Bürde der Unschuld auf ihren deutschen Schultern.«
Khaled wartet noch einen Augenblick, ob mein Redeschwall wirklich vorbei ist. Ich lehne mich an eine Kiefer. Todesbaum. Lebensbaum.
Khaled nimmt die Sonnenbrille von der Stirn, lehnt sich neben mich, blickt in den Wald und sagt: »Du musst mir nichts erzählen.«
Ich schweige.
»Musst nichts sagen … alles gut.«
Ich schließe die Augen und atme aus.
»Musst nichts sagen …
… nichts …
… gar nichts …«
Die Kiefernluft duftet. Über uns stößt sich ein großer Vogel von einem Ast ab und flattert laut davon. Blätter rieseln aus der Krone.
»Alles gut …«, brummt Khaled, immer tiefer, »… alles gut.«
»Ich habe meine Tochter verloren!«, schreie ich und mache einen Schritt weg vom Baum. Die Tränen sind schneller da, als ich sie bemerken kann. Tränen von Wochen, von Monaten. Schleuse auf.
»Ungeboren, bei einem Unfall.« Ich zeige mit den Händen auf den Waldboden. »Sie liegt nicht mal irgendwo begraben. Meine Frau … meine Freundin trägt sie um den Hals, als Diamanten. Ich habe sie angeschrien dafür, weil ich ein Grab wollte. Sie, die Mutter! Sie hat doch auch ihr Kind verloren, und ich schreie sie an!«
Khaled steht regungslos an der Kiefer und hört zu. Er bewegt sich nicht mal einen Millimeter, um mich nicht zu stören. Alles ist jetzt sein Ohr. Ich laufe hin und her, auf Blattwerk und knackenden Zweigen.
»Ich bin daran schuld, Khaled! Ich bin … ich war wie mein Urgroßvater. Ein Schwärmer, ein Revolutionär. Immer wollte ich alles verändern. In meiner ersten Wohnung habe ich in der Nachbarschaft Strom und Wasser abgestellt, damit die Menschen in der Not lernen, sich gegenseitig zu helfen! Ich habe Leute dazu aufgerufen, öffentlich in den Busch zu scheißen, um durch die Bußgelder die marode Stadtkasse zu füllen. Ich habe ein ganzes Buch geschrieben über alles, was falsch läuft. Brandreden habe ich gehalten, im Stau, den Kopf emporgeschwungen, voller heiligem Zorn. Das Dach eines Lasters war mein Bürgerbräukeller. Und ich hatte natürlich immer recht. Wie alle immer recht haben, wenn sie die optimale Welt erschaffen wollen.«
Khaled steht kieferngerade. Kein Mucks.
»Es gibt ein Computerspiel«, sage ich, » Operation Flashpoint , da sieht die Landschaft, in der man kämpft, genauso aus wie hier. Weite Felder und Hügel. Nadelwälder. Ab und zu ein Dorf mit Höfen und Scheunen. Es ist das anspruchsvollste Kriegsspiel aller Zeiten. Der Trick ist, deine Position nicht zu verraten. Wenn du aus dem Hinterhalt schießt, dann wechsele sofort den Ort. Sonst wissen sie, woher die Salve kam. Und dann richten sie ihre Rohre auf dich.« Ich schleudere den Kopf hin und her und lache nach den vergossenen Tränen, bitter und trocken: »Khaled. Ich habe nach dem Schießen nicht nur nicht den Ort gewechselt – ich habe ganze Leuchtfeuer gezündet. Bis alle es sahen, im Tal, an den Scheunen. Ich habe jahrelang die Aufmerksamkeit auf meine Position gelenkt, und am Ende hat es meiner Tochter das Leben gekostet. Ich wollte die Scheißwelt retten, aber ich es habe nicht mal hingekriegt, meine Familie zu beschützen.«
So.
Da hat er es geschafft.
Ich bin leer.
Meine Beine knicken weg, und ich plumpse würdelos auf den Waldboden. »Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist«, schluchze ich noch. »Lisa. Wenn ich wenigstens einen Glauben hätte. Aber ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.«
Khaled setzt sich neben mich, legt den Arm um meine Schulter und sagt kein Wort.
Zurück im Wagen, schließt Khaled die Tür und schaltet augenblicklich die Musik wieder an. Heiterer Calypso. Ich sehe bunte Röcke kreisen und halbnackte Männer lachend die Steel Drums schlagen. Es klingt wie eine Mischung aus einer Schlussszene in Das Traumhotel und dem nostalgischen Soundtrack des Piraten-Adventures The Secret Of Monkey Island . Ich funkele Khaled vorwurfsvoll an. Wie kann er nach den Augenblicken eben diese Musik anmachen?
Khaled grinst, die Hand am Lautstärkeregler. Er macht die Musik etwas leiser, lässt die Fenster herunter, streckt den linken Arm nach draußen und sagt: »Siehst du?«
»Was sehe ich?«
»Stehen wir am Mordwald. Hast du mir erzählt deinen Schmerz. Spiele ich Calypso. Und was passiert?«
Ich schnaufe. Mein Fuß beginnt, der Steel Drum zu folgen.
»Nichts!«, sagt Khaled. »Hören wir Calypso am Rande der Hölle und es passiert nichts.
Weitere Kostenlose Bücher